Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

Weil nun aber eine solche tropische Lebensstimmung wohl Bräuche aber keine vernünftelnde Sittlichkeit kennt und weder Geschichte besitzt noch Lebensziele, eben darum bedarf Indien eines ein für alle Mal fest beschlossenen Kastenwesens, welches alle auswertende Einzelvernunit und das derb aufrüttelnde Pathos der Not und Gerechtigkeit den fraglos dahinblühenden schicksalumwitterten Völkergeschlechtern ein für alle Mal ersetzt, beschwichtigend und gedankenlos, bis unter langsam erkaltender Sonne und bei spannungweckender Volks- und Hungersnot auch dieser letzte Sonnentraum ausgeträumt und seborgen ward im grübelndem Geiste.

Damit siegt Europa! Damit stehen wir an des Hindutums Grenze.

Nirgend auf Erden ward es Machtwilligen so leicht, Millionen zu vernutzen und zu veriochen. Nirgendwo hat so unverschämt, so selbstgerechte Kastenwirtschafit geherrscht. Bis zur Verknechtung Indiens durch die Engländer war die Geschichte des Landes eine einzige Katzbalgerei zwischen Wafienadel (Kschatrija) und Priesteradel (Brahmanen). Die indischen Epen zeigen steten Wechsel der kriegerischen Täter- und Helden-Hochziele mit den Beschaulichkeits- und Erkenntniß-

. wünschen jener Priesterklasse, welche so stolz ist, daß sie sogar

ihren Gott Brahmanaspati, d. h. Herrn des Gebetes, also nach sich selber benannte. Im tropischen Klima siegt der Priester: zumal da auch die Herrscher öfter dem Priester- als dem Kriegeradel zugehörten. Heute ist diese das Land mit tausend und abertausend schmarotzenden Bettelmönchen übersäende Priesterschaft, die dünkelhaiteste der Erde, so herrschbewußt, daß der niedrigste aus der Kaste der Geistlichkeit selbst dem höchstgestellten Europäer nicht die Hand reichen oder aus einem von ihm benutztem Geschirre essen würde, weil er befürchten würde, durch Berührung mit einem Sudra sich zu verunreinigen; täte er es dennoch oder ginge gar außer Landes so verlöre er seine Kaste......

Der große und gerechte Kampf um Befreiung, den gegenwärtig Indien kämpft unter der Führerschaft Gandhis, ist nicht nur ein Kampf gegen Europa sondern zugleich ein Kampf gegen das Joch des Brahmanentums. Und so weit er das zweite Ziel erreichen will, muß er nach der anderen Seite hin Einräumungen machen. Irgendwie wird Indien an Sozialismus und soziale Etik sich anpassen müssen. Dann aber kommt das Ende.