Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

- ‚Wer von dieser Sutra auch nur ein einziges Wort freudig annimmt, dessen Verdienst soll unermeßlich viel größer geachtet sein als das Verdienst dessen, der allen Wesen in den vierhunderttausend Asankhyeyas der Welten alle nur möglichen Erleichterungen und Glücksgüter verschafft.‘ j

In solchen Aussprüchen kommt scharf zu Tage, wie gering die morgenländische Weisheit den Fortschritt an Glücksgütern schätzt im Vergleich zu den zeitlosen Wonnen der Erkenntniß, angesichts deren alle Worte umkehren und alle Gedanken.

Um dem Leser fühlbar zu machen den Unterschied dieser asiatischen Lebensstimmung vom Weltgefühle Europas will ich neben diesen Ausspruch der Sutra der Lotos des guten Gesetzes stellen einen anderen Ausspruch eines gut abendländischen Philosophen, nämlich den folgenden Satz Fichtes, welcher grade das Umgekehrte, nämlich ‚verum impendere vitae‘ fordert:

‚Nichts hat unbedingten Wert, nichts hat Bedeutung als das Leben. Alles Übrige, Denken, Dichten, Wissen hat nur Wert, insofern es sich auf irgendeine Weise auf das Lebendige bezieht, von ihm ausgeht oder in dasselbe zurückzulaufen beabsichtigt.‘

_ Was Fichte in dieser Verkündigung mit den allbeliebten Worten Leben und Lebendig meint, das ist zweifellos nicht das Wandellose im Sinne Asiens, das indische brähma oder das chinesische tao. (Es wäre ja gar nicht zu begreifen, wie denn überhaupt Denken, Dichten, Wissen es anfangen solle, sich nicht auf das Unbedingte zu beziehen oder je aus ZeitlosSeiendem herauszutreten.)

Nein! Der immer lebenverbessernde, tatirohe, weltzugewandte abendländische Philosoph denkt beim Worte: Leben immer an ätman; das will sagen an: Macht, Glück, Stärke, Kraft, Weltherrschaft, Menschenherrlichkeit. Es kommt ihm überhaupt nicht in den Sinn, daß es auch einen anderen Standpunkt zu den Lebensrätseln geben könne als diesen hoministisch-progressistischen. Der Wille zur Macht ist eben schon unbewußte Voraussetzung, unter welcher der abendländische Denker an vermeintliche ‚Welträtsel‘ herantritt. Dagegen dürfte es wohl schwer sein, nachzuweisen, daß auch hinter Buddhas geistiger Übermächtigung aller Macht, hinter Laotses Wu-Wei oder hinter dem in jedem Augenblick erreichbarem brähma-nirvana der europäische Menschenglückseligkeitswille brenne.“)

*) Der Oupnekhat, — (das ist die im Jahre 1656 von indischen Gelehrten besorgte Übersetzung von 50 Upanishads ins Persische, nach welcher persischen Übersetzung 1801 von Anquetil Duperron eine lateinische angefertigt