Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

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wenn Geschichte und Gesellschaft ie tatsächlich und fertig werden sollten, eben damit auch das Leben hinter beiden schon.verstorben wäre.

Es erging mit dem Begrifie des Fortschritts wie es mit dem Besrifi Erziehung geht. Man setzt ein Ziel. Dann vergißt man, daß jede verfügte Festlegung nach einer bestimmten Seite hin, zugleich die Preisgabe der anderen Seiten benötigt .

Am Eingange des großen Kirchhois in Friedrichstelde bei Berlin sieht man die Gruftkapelle des Großbankiers Bleichröder wie von einer Schutzegarde umgeben von den Grabsteinen der großen deutschen Sozialistenführer: Liebknecht, Singer, Auer und Haase. Das ist wie ein sinnfälliges Gleichniß jener Wahrheit, daß des europäischen Fortschritts scheinbar so feindliche Parteien (Militarismus, Sozialismus, Kapitalismus, Progressismus) alle doch zuletzt am gleichem Strange ziehen. Nirgendwo aber kann man dies Ziel Europas sicherer begreiten als bei der Erforschung der Werke von Kar! Marx, bei welcher man fast erschrickt, wenn je einmal aufstoßen Worte wie: Seele, Leben, Mensch, ohne sofort ersetzt zu werden durch: Rentabilitätskoeffizient; Exponent der Arbeit; Index der Durchschnittsprofitquote; Substitut des zirkulierenden Mehrwerts, oder durch andere zählbare und vertauschbare Geltungseinheiten eines entbluteten und seelenlosen Logizismus.

Auch die gewaltigste Leidenschaft des Etos darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß die bewußtseinswirkliche Welt nicht Leben, sondern die vom naturentiremdeten Geiste gestiitete Lebensersatz welt ist.

Ich will dafür ein Gleichniß brauchen. In allen Weltstädten betreibt man gegenwärtig ein neues Heilverfahren gegen alle möglichen Krankheiten: die künstliche Gletschersonne. Man kann daher an Eingängen zu lichtlosen Großstadtkasernen wohl die Aufschrift lesen: ‚Höhensonne‘. — Eine Wissenschaft, welche physikalische, psychologische oder geschichtliche Wirklichkeit an die Stelle des Wandellosen setzt, gleicht der modernen Medizin, welche Höhensonne spendet — in Kellerhöhlen.

So stoßen wir denn von allen Seiten immer auf die selbe Ur- und Erzsünde, auf jene das menschliche Ich und seine Be-

wußtseinsinhalte bis zum Irrsinn überschätzende Eigenbezüglichkeit .