Europa und Asien : oder Der Mensch und das Wandellose : Sechs Bücher wider Geschichte und Zeit

Betrachten wir die Gestalten der Deuter und Seher, die in Europa Änselhn und Einfluß haben, so erleben wir eigentlich immer den selben Täter- und Tuter-Typus, dem es nie gegeben ist, in Stille zu hören, in Demut zu schaun. — In einem Tagebuch Friedrich Hebbels liest man folgendes Begebniß. Der iunge Dichter schwärmt für ein schönes Mädehen. Er möchte durch die Macht des Genius ihre Seele überwinden. Die Gelegenheit ist ihm günstig, In einer Gesellschaft, in der auch die Geliebte ist, bittet man ihn, aus seinen Werken vorzulesen. Er liest eine halbe Nacht lang. Schließlich hält es die Angebetete nicht mehr aus; sie streckt alle Glieder von sich und sinkt in Ohnmacht. Der Dichter aber eilt entzückt nach Haus und schreibt in sein Tagebuch: „Wieder hat sich die Macht des Geistes über die Materie bewährt. Emma war so überwältigt, daß sie zusammenbrach.“ — In dieser Art bewerben sich unsre ‚Philosophen‘ um. die Weisheit. Angetan mit der Liebe goldenem Königspurpur wie mit der Demut Büßerhemde, aber in jeder Maske das Lebendige mordend, schreitet über die Erde der unsäglich demutlose und unsäglich liebearme Geist europäischer Weltgeschichte.

Weißt Du worauf alle warten? Daß Einer komme und ihnen sage, was sie mit sich anfangen sollen. Eine Herreniaust wollen sie spüren: Weiber wie Männer, Könige wie Sklaven. Denn Leben ist nicht nur Wille zur Macht; Leben ist auch Wille zum Gehorsam.... |

Wer das Menschenherz kennt, in seiner Mischung von leitung- und hülfsbedürftiger Verzagtheit und bodenlos blinder Selbstwilliekeit; wer das Menschenhirn kennt, welches, auch das reiiste und reichste, völlig aus dem Geleise geworfen wird schon durch ein paar Tage ohne Nahrung, durch ein paar Nächte ohne Schlaf, durch etwas Gift im Blute oder Fieber in den Nerven; wer dieses Geschlecht kennt, zusammengesetzt aus lauter Widersprüchen, bald ein Nesthocker bald ein Nestflüchter, bald Heiliger, bald Vagabond, bald nach Einheit und Enge, bald nach Vielheit im Unermeßlichem begehrend, bald anregungs- bald abregungssüchtig, bald nach der Gewohnheit einer Zucht und Zelle, bald nach Taumeliesten der Freiheit schreiend; wer ihn kennt diesen wahngeschwollenen Menschengeist, der von der Natur lediglich bestimmt zum Selbstschutz eines eng beschränkten und tausend Zufällen unterworienen.