Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Eine Charakteranalyse

Wir wollen nun ein kleines Beispiel geben, freilich für den Anfang nur eine Andeutung unseres Verfahrens, und wollen zufrieden sein, wenn es uns geht wie Kindern, die zum ersten Male in der Schule lesen lernen und auf dem Heimweg sagen können: Aha, dort ist der A-Wagen der Straßenbahn und dort die 2er-Linie — und wollen uns wie sie der neugewonnenen Erkenntnis freuen. Wir werden auch noch nicht systematisch vorgehen, sondern geflissentlich den Blick mehr aufs Ganze richten, um so einen Gesamteindruck zu erhalten. Wir greifen das Porträt einer jungen Frau heraus (Michaela, Tafel IV, Bild 2). Können wir ohne eingehende Überlegungen angeben, welche Charakterzüge sich darin aussprechen? Geben wir es zu, wir werden froh sein, wenn es uns zunächst gelingt, eine nur halbwegs ordentliche Beschreibung des Gesichtsausdrucks zu geben, und das ist in der Tat das erste, was wir zu lernen haben. Wir werden sagen können, daß die Augen ziemlich weit geöffnet sind, daß die Augenlider, besonders das obere, sie in straffem Bogen einfassen, daß der Blick mit einer gewissen ruhigen Lebhaftigkeit seitlich gerichtet ist. Die Nase wollen wir vorerst außer Betracht lassen, ihre Ausdruckszüge sind nur einem geschulten Blick erkennbar, wogegen der Mund viel mehr Anhaltspunkte bietet. Die Mundwinkel sind seitwärts gerichtet. Sie sind dabei nicht schlaff, sondern eine gewisse Spannung belebt sie und zieht sie leise in die seitliche Richtung. Kleine Grübchen oder Furchen, fast senkrecht zu den Mundwinkeln, verleihen dieser Gesichtspartie noch einen markanten Zug, ohne daß ihre Ruhe beeinträchtigt würde. Die Lippen sind, obwohl in guter Schweifung vollkommen ausgebildet, schmal und schließen sich fest aufeinander, ohne jedoch gepreßt zu sein.

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