Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen
Da wir über diese kurz beschriebene Gesamtheit von Ausdruckszügen noch nichts zu sagen wissen, wollen wir die einzelnen Züge herausgreifen und zunächst an einigen Porträtköpfen die Bedeutung eines jeden für den Charakter studieren. Wir gewinnen dadurch eine Vergleichsgrundlage für unser Ausgangsporträt. Nun beurteilen wir nicht die angeborene Form der einzelnen Teile des Gesichts, sondern ihre Einstellung, das, was das Individuum mit ihnen macht: wie es die Augen einstellt in Lidöffnung und Blickrichtung, wie weit es die Lippenfläche den Reizen der Außenwelt preisgibt, wie fest oder locker es den Mund schließt usw. Kurz, der Ausdruck ist Handlung und Tat und dadurch so überaus deutlich ein Spiegel der Seelenstimmung und des Charakters,
Betrachten wir zunächst die weibliche Physiognomie IV, 8! Was besagt das offene, der Welt des Beschauers zugewendete Auge der Dottoressa Maria Montessori? Nichts anderes, als daß sie dieser Welt sympathisch zugewendet ist. Ihre straff gezogenen Augenbrauen geben dem Blick ein festes Ziel und unmittelbaren Kontakt mit dem Betrachter. Diese Frau ist gewiß gewohnt, ihren Mitmenschen im persönlichen Verkehr ins Auge zu schauen, aber daran, daß ihre Augen so voll und offen’dreinblicken, erkennen wir, daß sie keinen Einzelmenschen meint, sondern daß ihr wohlwollender Blick einer Gesamtheit zugewendet ist: wir wissen ja, es ist die Gesamtheit aller Kinder.
Die Frauengestalt auf dem nächsten Bilde (Rosl IV, 5) hat ebenfalls noch ziemlich weitgeöffnete Augen, allein sie sind nicht mehr zum Beschauer, sondern etwas seitlich gerichtet wie die ganze Haltung. Wir werden erfahren, daß diese Stellungen, wenn ein so natürliches Bild vorliegt wie IV, 5, nicht lediglich Sache des richtenden und weisenden Photographen sind, sondern daß ihnen gewisse Charakteranlagen der dargestellten Person entgegenkommen müssen,
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