Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen
beobachtung gar nicht notwendig wäre und sogar ihre Schärfe beeinträchtigt, deutet doch auf eine äußerst empfängliche Einstellung, auf Aufmerksamkeitsbereitschaft überhaupt. An diesem Bilde fallen uns auch die geblähten Nasenlöcher und die vollen, geöffneten Lippen auf. Sie haben denselben Sinn wie die offenen Augen und bestätigen die empfängliche Einstellung, obwohl doch der Mund bei diesem besonderen Akt der Aufmerksamkeit keine spezielle Funktion besitzt. Wir werden ein Menschenkind, das die empfindliche Fläche seiner Lippen breit den Reizen aussetzt, auch für sehr sinnenkräftig halten. Bei ihm überwiegt die Empfindung den Willen, wie es ja für das Kindesalter charakteristisch ist. Ähnlich schwellende Lippen hat die weibliche Physiognomie Darlings (IV, 4); sie hat sich die Empfindungsfreudigkeit der Lippen weit über das Kindesalter hinaus bewahrt. Wenn die Empfindungsreize die Sinnesöffnungen aufschließen, sowohl beim Auge als auch beim Munde, so setzt sich der Wille dem entgegen, er kann sie verschließen, So sehen wir es z. B. auf dem Bilde Maria Montessoris (IV, 8). Sogar die hellen, offenen Augen, an denen aber ringsumher eine leichte Spannung herrscht und über denen die Brauen leicht heruntergezogen sind, verraten einen guten Willenseinschlag, noch mehr aber die entschieden geschlossenen, eher schmalen Lippen. Ihr Ausdruck ist also fester, bewußter Wille.
Wir haben nun zwei Funktionen der Lippen kennen gelernt: sie können der Empfindung und dem Willen dienen. Wie wir sehen werden, gilt das allgemeine Gesetz, daß jedes Organ so viele Arten der Ausdrucksmöglichkeit hat wie Funktionen. Und der Mund hat sehr zahlreiche Funktionen, die schon Busch besingt:
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