Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Und diese zweierlei Arten des Lachens drücken sich denn . auch in der Physiognomie aus (Tabelle 22). Das primitive Lachen behält noch einen großen Teil seiner ursprünglichen Angriffstendenz: die Mundspalte ist iiber Gebühr breitgezogen, die Zähne sind gefletscht, rohe Laute entringen sich ihnen, die Augen sind scharf abgedeckt wie zum Angriff: ein solches Lachen nennen wir Grinsen (Strotter XVI, 5). Auf dieser Stufe entspringt das Lachen wirklich nur der Schadenfreude über das Malheur des Nächsten; muß aber das Geschöpf doch über die eigene Lage lachen, so hat es die Bedeutung des Böseseins, einer ohnmächtigen Wut, wie beim Affen (XVI, 9). Beim höheren, geistigen Lachen dagegen sind viele Hemmungen in die Angriffstendenz eingeschaltet, dafür wird die Lust um so reiner und ungetrübter entbunden. Die Mundwinkel stehen also weniger seitlich, dafür umso höher, die offene Zuwendung kommt voller zum Durchbruch, nicht nur im Munde, sondern auch in den Augen. Wir fühlen uns nicht ausgelacht, sondern angelacht (Kleine Raucherin I, 1; Zwei junge Herzen XI, 3), und was noch an Angriff darin stecken mag, das lassen wir uns gern gefallen.

Der Kulturmensch hat nicht mehr mimische Muskeln zur Verfügung als der primitive. Aber es ist klar, daß die Lenkbarkeit der einzelnen Muskelfaserbündel durch Nervenzentren beim kultivierten Mienenspiel eine ungleich größere sein muß als beim primitiven. Es nehmen ja auch, das haben wir plausibel zu machen versucht, weit mehr geistige Instanzen daran teil. Dadurch wird eine differenzierte und abwechslungsreiche Feineinstellung der verschiedenen gegeneinander spielenden Muskeln überhaupt erst möglich. Wir haben am Beispiel der zweierlei Arten des Lachens also zum erstenmal den Unterschied zwischen archaischen (urtümlichen) und kultivierten Ausdruckszügen vorgeführt und werden ihm in aller Ausdrucksweise wiederbegegnen.

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