Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

II. Ungleichmäßige Verteilung des Ausdrucks

War es in diesen Fällen ein einheitlicher Grundzug, der den ganzen Ausdruck beherrschte und so auch auf Einfachheit oder wenigstens Einheitlichkeit des Charakters deutet, so zeichnen sich andere durch stärkere Differenzierung aus.

1. Gegensatz zwischen Ober- und Untergesicht

Die schreibenden Kinder sind so in ihre schwere Aufgabe (I, 5) vertieft, daß sie das Bild des verschleierten Kontakts darbieten. Die Augen sind natürlich auf die Schrift geheftet, aber die Aufmerksamkeit muß sich so sehr auf die schreibenden Finger konzentrieren, daß die Augen fast verhängt erscheinen. Trotzdem ist das Gesicht keineswegs spannungslos, nur konzentriert sich die Spannung merkwürdigerweise mehr um den Mund herum. Kein Wunder, daß beim Kind in unbewachten Augenblicken der Mund oft die noch nicht so weit zurückliegende Saugeinstellung als Zeichen der Konzentration annimmt. Die Komponenten des verschleierten Kontakts verteilen sich hier auf Ober- und Untergesicht. So kommt es, daß die Abgedecktheit der Augen sich der Verhängtheit, die des Mundes aber der offenen Zuwendung (Saugstellung) nähert. Wir haben hier also eine ungleichmäßige Verteilung des Ausdrucks in Ober- und Untergesicht.

Der Gegensatz, der sich zwischen Ober- und Untergesicht beimWeinen kundgibt, wurde schon besprochen (Großes Leid 1, 4). Augen und Mund beabsichtigen die Abwehrstellung, allein nur beim scharf zusammengekniffenen Auge gelingt sie, mißlingt dagegen beim weit aufgerissenen Mund. Das kommt daher, daß das Auge sich gegen das Leid wie gegen einen eingedrungenen Fremdkörper verhält, gegen den es die Waffe der Tränen hat, während der in der Schmerzstellung aufgerissene Mund zugleich die Schmerzspannung ausstoßen kann.

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