Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Dieser Faktor ist oft der entscheidende für die Stärke des Ausdrucks. Die Seele kann sehr wohl auf einen starken Reiz reagieren, ohne daß man das am.Ausdruck merkt: wir haben dann einen zurückhaltenden Menschen ‘vor uns. Die Zurückhaltung, mag sie aus Vorsicht gegen den Feind oder aus Scham geübt werden, kann wie alle Ausdrucksgewohnheiten, zur zweiten Natur werden und sich schließlich dauernd der Physiognomie einverleiben.

Eine Physiognomie kann also aus drei Gründen ausdrucksstark oder ausdrucksschwach sein: je nachdem, ob der einwirkende Reiz stark oder schwach ist, je nachdem, ob die Steuerungszentren im seelischen Organismus leichter oder schwerer reagieren, und endlich je nach der Stärke des Kontakts, den die Person mit der Reizquelle beabsichtigt, was auch durch die Gegenwart andrer bedingt sein kann, die den Ausdruck verstehen und deuten könnten.

Oft, nicht immer, ist Zurückhaltung, als willkürliche Ausdruckshemmung, ein Zeichen von Willenskraft; sie besagt also etwas Positives; nur verdeckt mir dann dieser Zug alle übrigen. Positiv oder negativ abgedeckte Züge deuten auf eine Angriffs- oder Abwehrnatur; das kann tatsächlich ein hervorstechender Charakterzug sein und insofern ist jeder Ausdruck, nicht nur der des Auges, Spiegel der Seele. Uns interessiert aber, was auf einen Menschen besonderen Eindruck macht, was ihn selber interessiert und von welcher Seite aus also sein Wille am leichtesten zu lenken wäre. Das gelingt uns am besten bei empfänglichen Menschen mit offenen Zügen. Deshalb sind wir nicht nur erpicht auf jeden offenen Zug, sondern trachten auch, die abgedeckten und verhängten Züge in ihrer Entwicklung zurückzuverfolgen, bis wir an jene offene Stelle gelangen, die abgedeckt oder verhängt worden ist, wie es uns im vorigen Abschnitt bei dem in fast jeder Hinsicht abgedeckten Blick Wedekinds gelungen ist. (Seite 238).

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