Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

oder so verschwommen sind, daß man gar nicht weiß, woran man mit ihnen ist. Wovon ist die Stärke des Ausdrucks abhängig? Erstens vom Reiz. Schon Piderit hat das Gesetz formuliert, daß, je stärker der Reiz, desto stärker die Antwort auf den Reiz, die Ausdrucksbewegung. Zweitens aber von Umständen, die in unsrer Seele liegen; nicht immer reagieren wir auf denselben Reiz mit derselben Stärke und nicht alle Personen tun es in gleicher Weise. Während z. B. der Südländer in seinem Ausdruck außerordentlich lebhaft ist, zuckt der Indianer oder Japaner nicht mit der Wimper, mag er eine noch so freudige oder schreckliche Nachricht erfahren.

Natürlich ist es leichter, in der Seele eines ausdrucksstarken Menschen zu lesen als in der eines zurückhaltenden. Dagegen erlaubt aber die Stärke des Ausdrucks auch leichter eine Maskierung, ein Verbergen der wirklichen Verfassung hinter einem falschen Ausdruck, was uns bei Betrachtung der Maske noch beschäftigen soll. Jedenfalls fühlen wir uns veranlaßt, unsre Erkenntnis vom Wesen des Ausdrucks zu erweitern und noch einen dritten Faktor hinzuzufügen, von dem er abhängt: das ist die Wirkung auf den Nächsten, also der Eindruck des Ausdrucks. Der Ausdruck ist nicht bloß eine Wirkung des Reizes auf die Seele, nicht bloß einfache Einstellung des Sinnesorgans auf den Reiz, er ist vielfach, wenn auch nicht immer, für jemanden da, von dem er verstanden sein will. Wenn das kleine Kind schreit, will es nicht bloß seinem Unmut Luft machen, es will auch die Mutter herbeirufen: der Ausdruck ist nicht bloß Kundgabe, er ist auch Signal. Daher wird uns klar, warum die Kontakteinstellung mit Personen sich so oft von der mit bloßen Gegenständen unterscheidet. Der Blick zum Beschauer ist ein solches persönliches Kontaktmerkmal, das Lachen ist ein zweites, besonders in der Form des An- oder Auslachens. Der Ausdruck hat also auch eine soziale Funktion (Bühler).

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