Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Am ehesten werden wir hier vielleicht bei Physiognomien mit offenem Blick, aber mit in irgendwelcher Hinsicht abgedecktem Munde Erfolg haben; es ist die Gruppe, der Goethe angehört (II, 15). Deshalb haben wir, auf einfacherer Stufe, auch unser Modell (Michaela IV, 1, 2) aus ihr entnommen. An Ausdrucksstärke gewinnen sie freilich noch durch offene Züge des Mundes; es sind die Gestalten der dramatischen Gruppe (Shakespeare II, ?, 8; Spinoza Fig. 25), an denen uns die Ausdrucksstärke nicht verwundern wird. Ein erschwerender Umstand für die Deutung ist es, wenn zu den offenen Augen ein durch festen Lippenschluß verhängter Mund tritt (Lina I V, ?); dieses Zusammentreffen bedeutet: viel sehen, wenig ausplaudern!

Die Gehemmtheit des Ausdrucks in zurückhaltenden Physiognomien kann aber trotzdem vielsagender sein als seine Beweglichkeit im ausdrucksstarken Gesicht, wenn dieses nur eine Seite des Charakters betont; sie erweitert natürlich durch ihre Unbestimmtheit den Deutungsspielraum (Selbstporträt Karl Motz XIV, 9), aber auch die Spannweite der Charaktermöglichkeiten und wird dann erläutert durch ein ausdrucksstärkeres, aber einseitiges Bild (Photo Motz XIV, 5). Ähnlich die Spannweite unsres Modells Michaela IV, 2 zwischen den Haltungen IV, 1 und 3. Von den drei Selbstporträts des Verfassers (Tafel VII) ist das erste anscheinend das zurückhaltendste. An feinen Anzeichen, die früher besprochen wurden, ist jedoch der Spielraum zwischen Bild 2 und 3, die an sich zunächst eindeutiger sind, wohl zu erkennen, und so wirkt es doch als das ausdrucksstärkste.

Überhaupt hängt zuletzt die Ausdrucksstärke einer Physiognomie von der Beobachtung durch den Beschauer ab. Gesichter, die anfangs nichts zu sagen schienen, fangen bei näherer Betrachtung, und ganz sicher nach der physiognomischen Analyse, zu sprechen und zu leben an, und sogar die Ausdruckslosigkeit, die wirklich nichts zu sagen hat (Kürten

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