Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

2. Der momentane Ausdruck

Nach Erledigung des Körperbaulichen stehen wir vor den eigentlichen Ausdrucksproblemen. Dahin gehören nun zunächst die Fälle, wo uns aus einem Bilde irgend ein starker Ausdruckszug anspricht, der unmittelbar mit dem Charakter gar nichts zu tun hat, sondern bei allen Menschen auftritt, 2. B. Lachen und Weinen oder sonst ein Zug, wie wir ihn zur Illustration der Ausdruckslehre in diesem Buche sehr häufig angewendet haben. Das Lachen der Hille Bobbe (XI, 6), das Grauen der Frau vom Piz Palü (XT, 2), die Schadenfreude des Pastillenmannes (Fig. 12), das Weinen des Kindes „Großes Leid“ (T, 4), der lauernde Ausdruck des Schauspielers Chaplin in einer Rolle (XIV, 1), das Zähnefletschen des Rachsüchtigen (XVI, 6), das lange Gesicht des bei Wasser und Brot Weihnachten Feiernden (XV, 4), sie alle sind so starke mimische Ausschläge, daß wir beim ersten Anblick begreifen, daß ein Mensch sie unmöglich dauernd beibehalten könne und daß sie bald von anderen Ausdruckszügen abgelöst werden müssen. Wir haben also ein natürliches Gefühl für die Grenze, innerhalb welcher eine Ausdrucksstellung keiner näheren Motivierung durch eine äußere oder innere Situation mehr bedarf. Jenseits ihrer werden wir auf eine momentane Seelenlage, aber nicht auf den Charakter schließen, ehe wir uns nicht von der Suggestivkraft dieser obersten Ausdrucksschicht befreit haben.

3. Der charakteristische Ausdruck

Dann gibt es Fälle, in denen zwar auch ein gewisser Ausdruckszug dominiert, der jedoch nicht durch die Situation allein bestimmt ist, sondern vom Charakter selbst, dessen Physiognomie er nicht so ganz überdeckt, Motivation und Gestaltung mitempfängt und seinerseits einen wirklich wesentlichen Charakterzug herausstreicht. Hier sind genügend

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