Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

vielleicht gar nicht ansehen, welcher Gefühlsausschläge die dargestellte Person fähig ist, wie IV, 2 oder gar IV, 3 und umgekehrt würde man die Zurückhaltung von IV, 1 aus IV, 2 oder gar IV, 3 nicht herauslesen. Hier kann nur mittelbar die charakterologische, eben an solchen Fällen erworbene Erfahrung mit der Zeit uns zu Hilfe kommen. Oder man vergleiche die Ruhestellung des ersten Selbstporträts VII, 1 mit den Extremstellungen VII, 2 und 3!

Es müssen nicht immer Typenextremstellungen sein, durch die sich der Deutungsspielraum als tatsächliche Charakterspannweite offenbart, es kann auch die Vielseitigkeit des Charakters selbst oder seiner schauspielerischen Ausdruckshaltungen sein (vgl. Greta Garbo als Königin Christine und in „Wilde Orchideen” X, 1, 2). Von besonderem Wert sind Darstellungen aus den verschiedenen Lebensaltern, ohne die wir nur einen einmaligen Querschnitt durch den Charakter des Dargestellten erhielten und uns die Wandlungen des Charakters ganz unbekannt blieben. Ein Vergleich der beiden Bilder des Malers Motz (XIV, 8, 9) belehrt uns darüber, wie seine ehemalige Kontakthaltung von einer mehr skeptisch-individualistischen, jedoch an Empfindungs- und Schaffenskraft bereicherten Isolierung abgelöst wurde. Bei Shakespeare unterschieden wir an den Bildern den Lyriker (II, ?) und den Dramatiker (II, 8), bei Heine den Lyriker (VIII, 7), den Journalisten (VIII, 8) und den schlichten Menschen (VIII, 9), und bei Goethe (II, 1-5) vollends erzählen uns die Bilder sowohl mit ihren konstanten wie auch mit ihren variablen Zügen eine ganze Charakterbiographie.

6. Die mimische Muskulatur und ihr Tonus Dennoch ]äßt uns auch das Einzelbild nicht ganz wehrlos der Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten gegenüberstehen. Beruht doch die Ausdrucksphysiognomik eben darauf, daß gewohnheitsmäßig wiederholte oder beibehaltene Ausdrucks-

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