Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

und was uns sonst zur Verfügung steht, sind Photographien und andere Bilder. Die Photos sind meist die unsrer Verwandten und Bekannten, seltener schon gelangt man zu echten Photoaufnahmen von Fremden oder von berühmten Personen, etwa von Künstlern oder Staatsmännern, es sei denn durch eine Filmgesellschaft oder eine Bildagentur, die sich ihre Ware bezahlen lassen. Auch Gemälde sind im Original nicht so leicht und nur in beschränkter Auswahl zur Hand.

So sind wir für den größten Teil unsrer Studienobjekte auf Reproduktionen angewiesen, auf Buch- und Zeitungsillustrationen mit allen durch ihre Technik bedingten Unvollkommenheiten. Weder beim Tiefdruck noch gar bei der Autotypie mit ihrem mehr oder weniger groben Raster, die ja den Hauptbedarf an Illustrationen decken muß, wird das feine Korn der photographischen Platte erreicht, und auch die Lupenvergrößerung kann nicht viele Neuigkeiten mehr zutage fördern. Das Strichklischee und die freie Zeichnung endlich schränken eigenmächtig auch die optische Übersetzung von Flächen und Farben zu Strichen und Konturen ein und schieben noch subjektive Willkürlichkeiten zwischen den Deuter und seinen Gegenstand.

Unvollkommenheiten der Technik und die Subjektivität der vermittelnden, darstellenden Augen und Hände spielen uns also ein Material von sehr ungleichem Wert in die Hände, Aber auch wenn wir die vollkommene Zuverlässigkeit des uns Dargebotenen voraussetzen, ist noch immer nicht alles für die Ausdrucksdeutung gleich gut geeignet. Hier ist die erste Frage: Gemälde oder Photographien? Im allgemeinen möchte man diese als die weitaus naturtreuesten allen anderen Darstellungen vorziehen. Allein die Platte ist zwar naturfreu, aber absolut auswahlunfähig, sie bringt einen beliebigen Querschnitt. Nicht in jedem aber enthüllt sich der Ausdruck gleichmäßig. Bei unsren Untersuchungen über das Bewegungsehen haben wir schon erfahren, daß sich unter

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