Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

unauffällig, also unter verschleiertem Kontakt geschehen, denn nicht ganz mit Unrecht empfinden die Menschen den direkten Versuch einer Durchschauung als einen Eingriff in ihr Privatleben und lassen sich nicht gern anstarren. Sie wenden sich dann weg und verändern ihren Ausdruck, lassen Zurückhaltung und Maske in verstärktem Grade spielen, es sei denn, daß die Beobachtung im Einverständnis mit ihnen geschehe. Über die ethische Zulässigkeit, tiefer in das Innere des Nebenmenschen einzudringen, soll gleichfalls im Schlußwort noch gesprochen werden.

2. Bildliche Darstellungen

Unser Hauptstudium wird sich an Bildern vollziehen. Man hat sie bequem zur Hand, kann sie beliebig oft und lange und sogar mit der Lupe untersuchen und hat Muße, den ersten Resonanzeindruck zu korrigieren, die Analyse durchzuführen, sie möglichst weit zu bringen und sie neuerlich zu kontrollieren. Dennoch haften der Arbeitsweise an Bildern andere schwerwiegende Nachteile an. Sie stehen nicht mehr in der lebenden Funktion, daher kann man nicht hinter sie zurückgehen, sie sind ein ein für allemal Fertiges. Als Abbildungen können sie nicht alles bieten, was das Leben bietet, ihre Unbestimmtheit von einer gewissen Grenze an, also auch die Weite ihres Deutungsspielraums läßt sich nicht wegleugnen, und so sei denn mit allem Nachdruck nochmals auf den beherzigenswerten ersten Leitsatz unsres Verfahrens hingewiesen: Aus einem Bilde soll man nicht mehr herauslesen wollen, als darin steckt.

Gerade deshalb freilich sind nicht alle Bilder zur Analyse gleich gut geeignet, und so ist eine richtige Auswahl von höchster Wichtigkeit. Am idealsten ist natürlich die filmische Bildabfolge, der einwandfreieste Ersatz für das Leben, besonders wenn sie durch die Zeitlupe unterstützt wird. Leider ist auch die Benutzung dieses Verfahrens beschränkt,

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