Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten

England war jedo< weit entfernt, an ſeine ungefährdete Sicherheit zu glauben. Schon in der Napoleon’ ſchen Epoche hatte es auf das Mili zſyſtem zurüctgegriffen; es wurden Freiwilligen-Corps gebildet, wel<he vom Staate eine gewiſſe Unterſtüßung empfangen. Fn Folge des deutſch -franzöſiſhen Krieges hatte man dieſes Syſtem noh weiter ausgedehnt. Aus dem Allen war erſihtli<h, daß England für den Fall eines Krieges, für den Fall, daß die Bollwerke des Meeres durchbrochen würden, auf eine Erhebung ſeines Volkes re<nete, um den Angreifer abzuwehren. Eine ſol<he Volkserhebung aber war unvereinbar mit den Beſtimmungen der Brüſſeler Conferenzen. England wollte es niht zulaſſen, daß man Diejenigen, welche die Freiheit und Ehre des Landes, die höchſten Güter des Staates, mit ihrem Blute vertheidigen, als Mörder brandmarke, daß man Patriotismus und heroiſche Freiheitsliebe mit einem ſchimpflihen Tode bedrohe ; England wollte ſeine tapferſten Söhne, wenn auch der Willkür und der Eigenmacht des Siegers feine Schranke zu ſetzen iſ, wenigſtens niht auf Grund völkerrehtliher Vereinbarungen dem Henker ausliefern. Deutſchland war den Conſequenzen der Brüſſeler Vereinbarungen zuvorgekommen, indem es ſeinen Landſturm militäriſ<h organiſirte. Aber eine derartige Organiſation war in England eine Unmöglichkeit. Das engliſche Volk wacht über ſeine Privilegien; es begreift den Militarismus niht, wie man auf dem Continente die engliſchen Juſtitutionen niemals recht verſtanden hat.

Jn Folge dieſer Vorgänge war zwiſchen England und Rußland die Erbitterung in ſtetem Wachſen ; auh die Vorfallenheiten in Aſien (rugen das ihre bei, die Kluft zu erweitern. Während man von einer Seite die Vernichtung der Reuter’ſhen Conceſſion in Perſien durch den Schah ruſſiſ<hen Fntriguen zuſchrieb, beſchuldigte man von der anderen Seite die Engländer, den öſtlihen Stämmen der Turfomanen ſe<stauſend Gewehre geliefert zu haben und dur< Major Napier dieſelben die Anwendung der neuen Waffen gelehrt zu haben, Die Beſchuldigung wax wohl auf beiden Seiten begründet, denn mit welcher Haſt die Regierung des Czars ihre Eroberungspläne in Centralaſien förderte, wußte Jedermann, und ſelbſt der engliſchen Diplomatie ſchienen endlih die Augen aufgegangen zu ſein.

Aus Rußland drangen indeſſen gar mancerlei erbaulihe Dinge in die Welt.

So hieß es, der Czar habe einige hundert Ural-Koſaken nah dem Amu-Darja-Lande „ſtrafweiſe“ verſeßt, einer Gegend am Amur, einem menſchenleeren Winkel, wo die Exilirten darüber nachdenken können, daß es nict gut iſt, ſih gegen die neue Wehrpflicht in Rußland aufzulehnen. Die

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biederen Koſaken thaten es und büßten ihren Uebermuth. So ſehr die Ruſſen Sklavenſinn auszeichnet, in den Koſaken ſte>t do< in Erinnerung an gute, alte Zeiten, etwas Selbſtſtändigkeit und Troß, was freili< nicht vereinbar iſt mit der Disciplin.

Es ſchien ferner die ruſſiſhe Regierung nicht ſo ganz ohne Sorgen über die Entwickelung im Jnnern zu ſein ; die Arbeiter-Krawalle in Petersburg waren ſ{<limme Anzeichen. Vor Fahren überzog der Feuerſchein zahlloſer Brände mit plößlicher Glut den Horizont des civiliſirten Europa, es war Syſtem in der Brandlegung. Diesmal trat die Unzufriedenheit in anderer Weiſe an die Oberfläche und es war auh Syſtem darin,

Vor zehn Jahren mußte der Czar dem Dru>te der Zeit nachgeben und die Leibeigenſchaft aufheben — es knüpften ſi< damals manche Fortſhrittshoffnungen daran; nun war Zeit genug verfloſſen, um den Beweis zu erbringen, man wolle wirkli<h andere Politik betreiben und ſih anſtrengen, mit dem geſitteten Europa Schritt zu halten — es iſ nichts geſchehen, es wäre denn, daß man als Culturbeweis die Einführung des neuen Wehrgeſetes betrachten wollte. Der Bauernſtand in Rußland lag in tiefſter Noth, ihm blühte fein Recht, als das des freien unbeſchränkten Branntweingenuſſes. Die Arbeiter waren desgleichen ohne allen Rehts\{hut, und wiewohl das Princip der Gleichheit vor dem Geſetze anerkannt war, ſo fehlten doh ſo viele ausführende Geſeße, daß die Gleichheit illuſoriſ<h geworden. Den Mangel eines Geſetzes, welhes das Verhältniß des Arbeitsgebers zum Arbeiter, der Herrenleute zum Dienſtperſonale regelte, fing man in Rußland {wer zu fühlen an; weil die ſtädtiſche Bevölkerung darunter litt, erhob ſi die bitterſte Klage darüber und die ruſſiſhen Organe hatten vollauf zu thun, nah Regelung dieſer Verhältniſſe zu rufen. Man nahm ſi< in literariſchen Kreiſen ſogar, mit Erlaubniß einer hohen Cenſur, die Freiheit, den Zuſtand einen „ſeit zehn Fahren andauernden römiſchen Carneval“ zu benennen.

Wann in Rußland einmal die Kataſtrophe, der große ſociale Krach, eintreten würde, das ließ ſi< niht vorausſehen und vorausſagen; aber fommen würde ex und die Gräuel, welche .Religionsfriege und die rotheſte Commune heraufbeſhworen, werden Kinderſpiel dagegen ſein, was die zukünftige Generation erleben wird, wenn in Rußland der große Krach losgeht. Der gegenwärtige Kronprinz von Rußland hatte neuerdings unverholen ſeiner Abneigung gegen Deutſchland Ausdru> gegeben — ex gab zu verſtehen, ſowie er Herrſcher im Lande werde, würde er die Deutſchen hinausexpediren. Nun, damit läßt ſi die Kataſtrophe nur beſchleunigen, denn das

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