Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten
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aber es verweigerte im Vorhinein auf das Eutſchiedenſte, jedem Plan ſeine Zuſtimmung zu geben, der es zu einem zweiten Navarino gebieteriſ< nöthigen fonnte. Auf der Baſis eines feierlichen diplomatiſchen Actes, der abermals die Theilnahme des Welttheiles an dem Schi>ſal der orientaliſ<hen Chriſten darthäte und der Pforte einen Termin ſette, bis zu deſſen Ablauf die Reformen durchzuführen wären, ohne jedo< eine Verpflichtung zur Ergreifung von Zwangsmaßregeln für die Mächte zu enthalten, auf dieſer Baſis hoffte man eine Einigung der Mächte erzielen zu fönnen.
Allerdings waren damit noh keineswegs die Schwierigkeiten der Orientfrage aus der Welt geſchaft. Wenn eine Einigung auf dieſer Grundlage erzielt ſein ſollte, blieb no< immer die Frage des Friedens\{<lu}ſes mit Montenegro, die ſi ſehr ſ<wierig geſtaltete. Und ſelbſt, wenn dieſer Friedens\{luß zu Stande gebracht würde, blieben die beiden gewaltigen Armeen, die Rußland und die Türkei einander gegenüber geſtellt hatten, gewiſſermaßen wie drohende Wetterwolken am Horizont hängen. Die Entwaffnungsfrage drängte ſi alſo mit Naturnothwendigkeit in den Vordergrund. Sie konnte alſo brennend werden an dem Tage, an dem der Frieden mit Montenegro geſ<loſſen worden war und Europa der Pforte zur Durchführung der Reformen nochmals eine lezte Friſt gewährt hatte. Jm Geklirre der Waffen war die Durchführung der Reformen niht mögli<. Die Türkei ſollte alſo abrüſten. Der Welttheil, der ihr ſo viele Rükſichten gezeigt hatte und der auf ihren ungeſ<hwächten Fortbeſtand ſo hohen Werth gelegt, konnte das von ihr verlangen. Man hatte an dieſe EntwaffnungsFrage vielſeitig Beſorgniß geknüpft, man hatte gefürchtet, daß die Beſprehung derſelben gewiſſermaßen das lette Stadium vor dem Beginne des Krieges, der Anfang vom Ende ſein würde, und man unterſtüßte dieſe Anſchauung dur< Berufung auf die Ereigniſſe von 1859 und 1866. Es war
Zimmermann, Geſch. des orieut. Krieges.
Fürſt Bismar.
rihtig, daß damals die diplomatiſche Behandlung der Entwaffnungsfrage den Uebergang zum Kriege bildete, indeſſen mußte man wohl diesmal zugeben, daß die Verhältniſſe doh einigermaßen anders lagen als in jenen Zeiten.
Die Miſſion Fgnatieff's hatte ſomit eine tiefernſte Bedeutung. Fgnatieff vertrat den Czaren und den Reichskanzler. Er war mit unbeſchränkter Vollmacht ausgerüſtet, und dort, wo er ſih gerade befand, war au< der Shwerpunkt der Orientfrage.
Rußland war zum Krieg entſchloſſen, es fonnte ſeine Armee niht länger ruhen la ſen. Es ivollte die Zugeſtändniſſe ſofort haben, oder es war zu ſpät für alle Zugeſtändniſſe. Jn dieſem Lichte geſehen, war Jgnatieff eigentli<h mit einem Ultimatum ausgerüſtet, mit einem Ultimatum an die Adreſſe Englands. Rußland legte die Hand an's Schwert, und drohte im Falle der Nichtunterzei<hnung des Protokolls mit dem Kriege — gegen die Türkei. Allein England iſ nicht identiſch mit der Türkei ; das Anerbieten Rußlands war ſogar \<mei<elhaft für England, indem es die Entſcheidung über Krieg und Frieden im Oriente England zuerkannte, allerdings aber auch die Verantwortlichkeit für den Krieg zugeſchoben
hatte. ſete die Berathungen des
Das Cabinet Protokollsvorſhlages fort. General Fgnatieff kehrte nah Paris zurü>; er nahm nicht an den Verhandlungen über den Protokollvor\{<lag Theil. Man glaubte, die Zuſtimmung der ruſſiſhen Regierung zu den engliſcherſeits beantragten Modificationen werde telegraphiſ<h no<
vor der Abreiſe Fgnatieffs erfolgen. Nah dem Eintreffen der Zuſtimmung Nußlands zu dem von der britiſhen Regierung revidirten Text des Protokolles ſollte die formelle Zuſtimmung der anderen Mächte erfolgen. Sämmtliche Großmächte Europas ſollten ihr fortgeſeßtes Jntereſſe an den Zielen, denen Rußland ſi< gewidmet, erklären und ſi
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