Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 1.
Roman von Georg Hartwig. 59
„Darf ih auch tadeln?“ ne>te ex neben ihr herſchrei= tend. „Wenn ih nun ein Kenner wäre?“
„Jh habe mih ſo oft nah einem Tadel geſehnt |“ fuhr es Jrma nicht ohne Bitterkeit {nell über die Lippen. „Gleichgiltigfeit ſ{<merzt tiefer als Unzufriedenheit !“
„Jhr Herr Gemahl verhält ſich den Künſten gegenüber grundſäßlich paſſiv? Oder macht ex nur dem Geſchma> der Sittlinger großmüthig Zugeſtändniſſe 2“
„Beides!“ Sie warf den Gazeſchleier von dem Bilde zurü> und trat neben daſſelbe.
Er ſah mehr in ihr ſprechend belebtes Antliß als auf das faſt vollendete Gemälde. Als Jrma es bemerkte, ſagte er entiſhuldigend: „Jh finde eine gewiſſe Aehnlichkeit zwiſchen Jhnen und dieſer Venetianerin heraus. Jm Nebrigen ſah i< das Original kurz zuvor in Dresden.“
„D weh!“
Sein Intereſſe erwachte wirllih. Er legte den Maß= ſtab eines durchgebildeten Geſchma>s ernſthaft an die Arbeit, und während die junge Frau geſpannt lauſchte, fritifirte ex unparteliiſh die Schwächen wie die Vorzüge ihres niht gewöhnlichen Taſentes.
Tief aufathmend, als habe ſie einen lang entbehrten er= friſchenden Trank genoſſen, reichte ſie dem Grafen , bevor er fich bemühen fonnte, ihr die Lampe abzunehmen, dankend die Hand.
Er zog die ſ{lanken Finger an ſeine Lippen. „Wenn ih hoffen darf, daß mein heutiges Erſcheinen in FJhrem Hauſe nicht das lette geweſen iſt, ſo würde ih den Auf= enthalt in Kronthal für eine Gunſt des Schicfſals anſehen |“