Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2

516 Siebente ODronung: Nager; fünfte Familie: Mäuſe.

Forſcher nah ihm, welchem ſie in die Hände kam, ſtellte ſie als eine neue Art auf, und jeder glaubte in ſeinem Rechte zu ſein. Erſt fortgeſezte Beobachtung ergab die unumſtößliche Wahrheit, daß unſer Zwerglein wirkli<h von Sibirien an dur< ganz Rußland, Ungarn, Polen und Deutſchland bis nah Frankreich, England und Ftalien reiht und nur ausnahmsweiſe in manchen Gegenden niht vorkommt. Sie lebt in allen Ebenen, in denen der Aerbau blüht, und keineswegs immer auf den Feldern, ſondern vorzugsweiſe in Sümpfen, im Röhricht und in Binſen 2c. Jn Sibirien und in den Steppen am Fuße des Kaukaſus iſt ſie gemein, in Rußland und England, in Schle8wig und Holſtein wenigſtens nicht ſelten. Aber auh in den übrigen Ländern Europas kann ſie zuweilen häufig werden. Während des Sommers findet man das niedliche Geſchöpf in Geſellſchaft der Wald- und Feldmaus in Getreidefeldern, im Winter maſſenweiſe unter Feimen oder auh in Scheuern, in welche ſie mit der Frucht eingeführt wird. Wenn ſie im freien Felde überwintert, bringt ſie zwar einen Teil der kalten Zeit ſ<lafend zu, fällt aber niemals in völlige Erſtarrung und trägt deshalb während des Sommers Vorräte in ihre Höhlen ein, um davon leben zu können, wenn die Not an die Pforte klopft. Jhre Nahrung iſt die aller übrigen Mäuſe: Getreide und Sämereien von verſchiedenen Gräſern, Kräutern und Bäumen, namentlih aber auh kleine Kerbtiere aller Art.

Ju ihren Bewegungen zeichnet ſi<h die Zwergmaus vor allen anderen Arten der Familie aus. Sie läuft, ungeachtet ihrer geringen Größe, ungemein {nell und klettert mit größter Fertigkeit, Gewandtheit und Zierlihkeit. An den dünnſten Äſten der Gebüſche, an Grashalmen, welche ſo ſhwach ſind, daß ſie ſih mit ihr zur Erde beugen, ſhwebend und hän= gend, läuft ſie empor, faſt ebenſo {nell an Bäumen, und der zierliche kleine Shwanz wird dabei ſo recht geſchi>t als Wi>elſhwanz benußt. Auch im Shwimmen iſt ſie wohlerfahren und im Tauchen ſehr bewandert. So kommt es, daß ſie überall wohnen und leben kann.

Jhre größte Fertigkeit entfaltet die Zwergmaus aber doh noch in etwas anderem. Sie iſt eine Künſtlerin, wie es wenige gibt unter den Säugelieren, eine Künſtlerin, welche mit den begabteſten Vögeln zu wetteifern verſucht; denn ſie baut ein Neſt, das an Schönheit alle anderen Säugetierneſter weit übertrifft. Als hätte ſie es einem Rohrſänger abgeſehen, ſo eigentümli<h wird der niedlihe Bau angelegt. Das Neſt ſteht, je nah des Ortes Beſchaffenheit, entweder auf 20 —30 Niedgrasblättern, deren Spigzen zerſhliſſen und ſo dur(einander geflochten ſind, daß ſie den Bau von allen Seiten umſchließen, oder es hängt zwiſchen 0/5—1 m hoh über der Erde, frei an den Zweigen eines Buſches, an einem Schilfſtengel und dergleichen, ſo daß es ausſieht, als ſ{<hwebe es in der Luft. Fn ſeiner Geſtalt ähnelt es am meiſten einem ſtumpfen Eie, z. B. einem beſonders rundlichen Gänſeeie, dem es auh in der Größe ungefähr gleihkommt. Die äußere Umhüllung beſteht immer aus gänzlich zerſ{lißten Blättern des Rohres oder NRiedgraſes, deren Stengel die Grundlage des ganzen Baues bilden. Die Zwergmaus nimmt jedes Blättchen mit den Zähnen in das Maul und zieht es mehrere Male zwiſchen den nadelſharfen Spißen durch, bis jedes einzelne Blatt ſeh3-, aht- oder zehnfach geteilt, gleihſam in mehrere beſondere Fäden getrennt worden iſt; dann wird alles außerordentlih ſorgfältig durcheinander geſchlungen, verwebt und geflohten. Das Fnnere iſt mit Rohrähren, mit Kolbenwolle, mit Käßchhen und Blütenriſpen aller Art ausgefüttert. Eine kleine Öffnung führt von einer Seite hinein, und wenn man da hindur< in das Fnnere greift, fühlt ſih dieſes oben wie unten gleihmäßig geglättet und überaus weih und zart an. Die einzelnen Beſtandteile ſind ſo dicht miteinander ver= fißt und verwebt, daß das Neſt einen wirkli feſten Halt bekommt. Wenn man die viel weniger brauchbaren Wertzeuge der Mäuſe mit dem geſchi>ten Schnabel der Künſilervögel vergleicht, wird man jenen Vau niht ohne Bewunderung betrachten und die Arbeit der Zwergmaus über die Baukunſt manches Vogels ſtellen. Jedes Neſtchen wird immer zum