Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2

548 Siebente Ordnung: Nager; ſehſte Familie: Wühlmäuſe.

hervorzugehen, daß der große Naturforſcher ſelbſt die Lemminge auh niht auf der Wanderſchaft geſehen, ſondern nur das Gehörte wiedererzählt hat. Neuere Reiſende haben der wandernden Lemminge Erwähnung gethan und dabei geſagt, daß der Zug der Tiere einem wogenden Meere gliche; aber ihre Angaben ſind keineswegs ſo ausführlih und bes ſtimmt, daß wir über die Wanderung ſelbſt ein klares Bild bekommen ſollten. Martins erzählt, daß er in einem Fichtenwalde am Ufer des Muonio Lemminge zahlreicher auffand als irgendwo zuvor, und daß es ihm unmöglih geweſen wäre, alle diejenigen zu zählen, welche er in einem Augenbli>e geſehen habe. Je weiter er und ſein Begleiter im Walde vordrangen, deſto größer wurde die Anzahl der Tiere, und als man zu einer lichten Stelle gekommen war, erkannte man, daß ſie alle in derſelben Richtung liefen, indem ſie die des Flüßchens einhielten. Oft begegneten ſie den Beobachtern, indem ſie auf beiden Ufern des Muonio ans Land ſtiegen. Eine Urſache der Wanderung vermohte Martins ebenſowenig zu erkennen wie Linné.

„Das Allermerkwürdigſte bei dieſen Tieren“, ſagt der leßtgenannte Forſcher, „iſt ihre Wanderung; denn zu gewiſſen Zeiten, gewöhnlih binnen 10 und 20 Fahren, ziehen ſie in ſolcher Menge fort, daß man darüber erſtaunen muß, bei Tauſenden hintereinander. Sie graben zuleßt förmliche Pfade in den Boden ein, ein paar Finger tief und einen halben breit. Dieſe Pfade liegen mehrere Schritte voneinander entfernt und gehen ſämtlich ſ{nurgerade fort. Unterwegs freſſen die Lemminge das Gras und die Wurzeln ab, welche hervorragen; wie man ſagt, werfen ſie oft unterwegs und tragen ein Junges im Maule und das andere auf dem Nücken fort. Auf unſerer Seite (auf der ſhwediſchen alſo) ziehen ſie vom Gebirge herunter nah dem Bottniſchen Meerbuſen, gelangen aber ſelten ſo weit, ſondern werden zerſtreut und gehen unterwegs zu Grunde. Kommt ihnen ein Menſch in den Strich, To weichen ſie nicht, ſondern ſuchen ihm zwiſchen den Beinen dur<hzukommen oder ſeßen ſich auf die Hinterfüße und beißen in den Sto>, den er ihnen etwa vorhält. Um einen HeuTchober gehen ſie niht herum, ſondern graben und freſſen ſih dur<h; um einen großen Stein laufen ſie im Kreiſe und gehen dann wieder in gerader Linie fort. Sie ſhwimmen über die größten Teiche, und wenn ſie an einen Nacen kommen, ſpringen ſie hinein und werfen ſich auf der andern Seite wieder in das Waſſer. Vor einem brauſenden Strome ſcheuen ſie ſich niht, ſondern ſtürzen ſich hinein und wenn auh alle dabei ihr Leben zuſeßen ſollten.“ Scheffer erwähnt in ſeiner Beſchreibung von Lappland die alte Erzählung des Biſchofs Pontoppidan, nah welcher die Lemminge, ſowohl weſtlich als öſtlih gegen das Nordmeer oder den Bottniſchen Meerbuſen hin, in ſolchen Haufen vom Gebirge herunterrü>en, „daß die Fiſcher oft von dieſen Tieren umringt und ihre Boote bis zum Unterſinken mit ihnen gefüllt werden. Jm Meere treiben maſſenhaft die erſoffenen, und lange Stre>en der Küſten ſind von ihnen bede>t.“

Meiner Anſicht nah muß die Urſache ſolher Wanderungen ebenſo wie bei anderen Wühlmäuſen in zeitweilig ſih fühlbar mahendem Mangel an Nahrung beruhen. Obwohl dieſe Lemminge, wie oben bemerkt, zuweilen in die Niederung herabkommen, müſſen ſie doch als Gebirgstiere bezeihnet werden; denn auch die Tundra im hohen Norden von Skandinavien trägt durchaus das Gepräge der breiten, abgeflahten Rü>ken ſüdlicherer Gebirge. Wenn nun auf einen milden Winter ein gutes Frühjahr und ein troœener Sommer folgen, ſind damit alle Bedingungen zu einer Vermehrung gegeben, welche, wie bei anderen Wühlmäuſen auh, als eine grenzenloſe bezeihnet werden darf. Die Tro>kenheit bewirkt aber gleichzeitig ebenſo ein Verdorren oder doh Verkümmern der bevorzugten Nahrungspflanzen, das ausgedehnte Weideland reicht für die Menge der wie alle Nager freßgierigen Geſchöpfe niht mehr aus, und ſie ſehen ſi< nunmehr gezwungen, anderswo Nahrung zu ſuchen. Unter ſolhen Umſtänden rotten ſi bekanntlih nicht allein Nagetiere, ſondern auh andere Pflanzenfreſſer,