Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1

84 Erſte Drdnung: Baumvögel; erſte Familie: Sänger-

Auf ihrem Zuge durhſtreift ſie alle von Skandinavien ſüdlich gelegenen Länder Europas und dehnt ihre Reiſe bis zum Atlas aus. Auf dem Rieſengebirge, in den Alpen und Karpathen, vielleicht auh auf dem Feldberge und Altkönige im Naſſauiſchen ſind Verwandte der Ringdroſſel als Sommervögel beoba<htet worden, aus denen mein Vater die Art Turdus alpestris (Alpen- oder Shneeamſel) gebildet hat.

Die Amſel oder Shwarzdroſſel, Shwarz-, Sto>- und Kohlamſel, Merle, Amſelmerle und Lyſter (Turdus merula, Sylvia merula, Mernula yulgaris, pinetorum, truncorum, alticeps, major und carniolica), endlih unterſcheidet ſih von ihren Verwandten, wenn auh niht gerade augenfällig, durch ihre verhältni8mäßig kurzen, ſtumpfen Flügel, in denen die 3., 4. und 5. Schwinge faſt gleihlang und die längſten ſind, ſowie den verhältnismäßig langen, an der Spive etwas abgerundeten Schwanz. Das Gefieder des alten Männchens iſt gleihmäßig ſhwarz, das Auge braun, der Augenlidrand hoWgelb, der Schnabel orangegelb, der Fuß dunkelbraun. Beim alten Weibchen iſt die Oberſeite mattſchwarz, die Unterſeite auf ſ<hwarzgrauem Grunde durch lihtgraue Saumfle>en gezeichnet; Kehle und-Oberbruſt ſind auf gleihfarbigem Grunde weißlich und roſtfarben gefle>. Das Jugendkleid zeigt oben auf ſ<hwarzbraunem Grunde roſtgelbe Schaft-, unten auf roſtfarbigem Grunde bräunliche Querfle>en. Die Länge beträgt 15, die Breite 35, die Fittichlänge 11, die Shwanzlänge 12 em.

Vom 66. Grade nördlicher Breite an iſt die Amſel dur< ganz Europa an allen geeigneten Orten heimiſch, lebt aber au<h in Weſtaſien, in Nordweſtafrika, auf Madeira, auf den Kanariſchen Fnſeln und den Azoren. Jn der Küſtenlandſchaft von Maſſenderan im Süden des Kaſpiſees iſt ſie nah Alfred Walter ungemein häufig und wurde auh weiter oſtwärts allenthalben brütend an den Flußläufen und in den Gärten der Ortſchaften des Gebirges gefunden. Nur einzelne der im hohen Norden groß gewordenen Amſeln treten eine Wanderung an, viele abex überwintern ſchon im ſüdlichen Schweden; in Deutſchland überwintern wohl die meiſten, namentli<h die Männchen, regelmäßig. Die Amſel bevorzugt oder bevorzugte doh feuhte Waldungen und überhaupt größere Baumgehege, welche viel Unterholz haben. Aber gerade in ihrem Treiben und ihrer Leben8weiſe vollzieht ſich ſeit 50—60 Fahren, alſo gewiſſermaßen vor unſeren Augen, eine ſehr bemerken8werte Veränderung. Wie Bechſtein zu Ende des vorigen Jahrhunderts ſie ſchildert, ſo konnte au< Gloger noch zu Anfang der dreißiger Jahre von ihr ganz allgemeingültig ſagen: ſie ſei ein ſehr ſhüchterner, verſte> und einſam lebender Waldvogel, der ſi< nie ohne Not ins Freie begebe, ſelbſt auf der Wanderung ſehr ungern in kleine und lihte Beſtände einfalle und ſih faſt niemals frei oder auh nur auf einen höheren Baum ſeßze. Diejenigen Amſeln, wel<he Waldvögel geblieben ſind, werden auh heute no< dur dieſe Schilderung trefflih gekennzeihnet, niht mehr aber die immer wachſenden Scharen derjenigen, welche, namentli<h in der weſtlihen Hälfte Deutſchlands, allmählich in die Parks, Gärten und Anlagen bis inmitten der Ortſchaften eingedrungen und hier vollſtändig heimiſ<h, vertraute Gäſte der Menſchèn geworden ſind.

Als der zu Ende des Jahres 1879 entſchiedene „Würzburger Amſelprozeß“ ſo viel Staub aufwirbelte, wurde viel für und wider die Amſeln geſtritten, welche ihre Leben8weiſe ſo auffällig geändert haben. Davon, daß ſie gelegentlich zarte, namentlih rankende Pflänzchen zerzauſen und ſchädigen, kann ſih jeder Gartenfreund überzeugen; es iſt aber eine leichte Mühe, ſolche beſonders wert gehaltene Gewächſe durch eine lo>er geflohtene Drahthaube zu ſhüßen. Nach einigen Beobachtungen von Ruß und zahlreiheren von Baldamus iſt niht zu bezweifeln, daß, wie der leßtgenannte Gewährsmann ſchreibt, „die im Winter wohl in allen Städten, wo ſie ſih heimiſh gemacht, ſo reihlih und auch mit rohem wie gekochtem Fleiſche gefütterte Amſel ſih infolge dieſes Futters daran gewöhnt haben möge, ihre