Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1

92 Erſte Drdnung: Baumvögel; erſte Familie: Sänger.

Wenig über 100 Arten von Singvögeln gehören der Unterfamilie an. Sie verbreiten ſih über alle Teile der Oſthälfte der Erde und fehlen nux in Amerika. Grasmücken bewohnen alle Gebiete und alle Gürtel der Höhe und Breite und werden, wo das Gelände mit Pflanzen beſtanden iſt, nirgends vermißt; ſie herbergen im Walde wie in einzelnen Gebüſchen, in der ho<hſtämmigen Heide wie im Röhricht oder Riede; ſie beleben daher die verſchiedenſten Örtlichkeiten und zwar, ihrer hohen Begabung entſprechend, meiſt in höchſt anmutiger Weiſe. Munter und thätig, bewegungsluſtig und unruhig, dur{ſ<hlüpfen und durchkriechen ſie die dichteſten Beſtände der verſchiedenartigſten Pflanzen mit unübertrefflicher Gewandtheit. Sie beherrſchen das Gezweige der Bäume ebenſo wie das verfilzte Buſchdidit und das dichteſte Ried; ſie laufen zum Teile ebenſogut, wie ſie ſ{lüpfen, und fliegen, wenn auch niht gerade ausgezeihnet, ſo doh meiſt ret leidlich, gefallen ſi< ſogar in Flugkünſten mancherlei Art. Weitaus die meiſten verdienen ihren Namen; denn alle Mitglieder ganzer Unterfamilien zählen zu den trefſlihſten Sängern, welche wir kennen; einzelne ſind wahre Meiſter in dieſer Kunſt. Auch ihre höheren Fähigkeiten müſſen als wohlentwidtelte bezeihnet werden. Die Sinne ſcheinen ziemli<h gleihmäßig ausgebildet zu ſein, und der Verſtand wird von niemand unterſchäßt werden, welcher ſie kennen lernt. Sie ſind klug, wiſſen ſih den Umſtänden gemäß einzurichten, unterſcheiden ihre Freunde und Feinde, zeigen ſi zutraulih, wo dies gerechtfertigt iſt, und ſcheu, wo ſie Nachſtellungen erfahren haben, bekunden Liſt wie Ehrlichkeit, Geradheit, Zuthunlihhkeit wie Mißtrauen, leben mit anderen Vögeln in beſter Eintracht, ſolange ſie es können, und mit ihresgleichen in Frieden, ſolange mit der Liebe niht au< die Eiferſucht ſih in ihnen regt, bethätigen ſih als treue Gatten und hingebende Eltern, opfern ſih ihrer Brut zuliebe in wunderbar rührender Weiſe auf, vereinigen mit einem Worte die vielſeitigſten und trefſlihſten Eigenſchaften in ſi.

Alle bei uns im Norden wohnenden Arten ſind Zugvögel; die meiſten erſcheinen auth erſt, wenn der Frühling wirklih eingezogen iſt, in der Heimat. Dann grenzt ſih jedes Paar ſein Brutgebiet, ſei es groß oder lein, gegen andere derſelben Art ab und duldet nur ausnahmsweiſe innerhalb ſeiner Grenzen ein zweites. Unmittelbar nah der Wahl des Gebietes beginnt der Bau des Neſtes, welches je nah der Art ebenſo verſchieden geſtellt als ausgeführt werden kann. Beide Eltern pflegen das aus 4—6, höchſtens 8 Eiern beſtehende Gelege abwechſelnd zu bebrüten, und beide widmen ſih der Brutpflege mit gleichem Eifer. Die Jungen werden ausf<ließli<h mit Kerbtieren aufgefüttert, und dieſe bleiben auch die hauptſählihſte Nahrung der alten Vögel, obgleich dieſe im Herbſte allerlei Beeren und andere Früchte niht gänzlih verſhmähen. Merkbar ſ{hädli<h wird uns keine einzige Grasmücte, nüßli<h wohl jede, ſo ſchwierig es auh ſein mag, dies immer zu erkennen. Alle verdienen daher in demſelben Maße unſeren Schuß und die Liebe, welche ſie, dank ihres vortrefflichen Geſanges, glü>liherweiſe faſt ausnahmslos bei alt und jung ſih erworben haben; alle eignen ſih au<h zu Käfigvögeln und werden als ſolche troß mancher Jrrwege, auf welche die Liebhaberei in der Neuzeit geraten, ſtets hohen Rang behaupten.

ES

Die Kennzeichen der Flüevögel (A ccentor) ſind kräftiger Leib, tegelpfriemenförmiger, gerader, mittellanger, an den ſharfen Schneiden ſtark eingezogener Schnabel, deſſen rißenförmige Naſenlöcher oben von einer Haut bede>t werden, mittelhohe, etwas ſtarke Füße mit kurzen, aber kräftigen Zehen und ſtark gekrümmten Nägeln, mittel- oder ziemlich lange Flügel, in denen die dritte oder vierte Schwinge die längſte zu ſein pflegt, kurzer, mäßig breiter Schwanz und lo>eres Gefieder. Die Geſchlechter unterſcheiden ſih wenig voneinander, die Jungen merklih von den Alten.