Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/1

Dorngras8müce: Verbreitung. Weſen. Fortpflanzung. 107

vermöge ihres ſhlanken Leibes mit ungemeiner Geſchicklichkeit auch die dichteſten, durhſucht alles und kommt ſehr oft lange Zeit nicht zum Vorſchein. Dann aber hüpft ſie wieder herauf, ſeßt ſih auf die Spige eines vorſtehenden Zweiges, ſieht ſih um und verbirgt ſich von neuem. Dies geht den ganzen Tag ununterbrochen ſo fort. Fhr Flug iſt geſhwind, mit ſtarkem Schwingenſchlage, geht aber gewöhnlich tief über dem Boden dahin und nur kurze Stre>en in einem fort. Jhr Loton lautet „gät gät {heh heh“ und drückt verſchiedene Gemütszuſtände aus. Das Männchen hat einen zwar mannigfachen, aber wenig klangvollen Geſang, welcher aus vielen abgebrochenen Tönen zuſammengeſeßt iſt und an Anmut und Schönheit dem der meiſten deutſhen Sänger ſehr nachſteht; er dient aber doh dazu, eine Gegend zu beleben, und bringt in die flötenden Geſänge der Gartengrasmü>e, des Weidenlaubſängers und anderer eine angenehme Mannigfaltigkeit.“ Naumann neunt den Geſang angenehm und ſagt, daß man ihn für kurz halten könnte, weil man in der Entfernung nur die hellpfeifende, flötenartige, wohltönende Shlußſtrophe höre, während er in der That aus einem langen Piano und jenem kurzen Shluß-Forte beſtehe. „Das Piano iſt zuſammengeſeßt aus vielerlei abwehſelnden, pfeifenden und zirpenden Tönen, welche ſehr {nell aufeinander folgen und leiſe hergeleiert werden; aber das beſchließende Forte wird mit {öner Flötenſtimme und mit voller Kehle geſungen.“ — „Die Dorngrasmü>e“, fährt mein Vater fort, „läßt ihren Geſang niht bloß im Sißen und Hüpfen, ſondern au< im Fluge hören. Sie kommt nämlich ſingend auf die höchſte Spiße eines Buſches herauf, ſteigt flatternd 15 bis 30 m in die Höhe und ſtürzt ſih, immer ſingend, entweder flatternd in ſchiefer oder mit angezogenen Schwingen faſt in ſenkrechter Richtung wieder herab.“ Hierdur<h macht ſie ſich dem kundigen Beobachter ſchon von weitem kenntlih. Vor dem Menſchen nimmt ſie ſich wohl in aht. Bei uns iſt ſie zwar niht gerade ſcheu, aber doch vorſichtig genug. Merkt ſie, daß man ſie verfolgt, dann verbirgt ſie ſi ſo ſorgfältig in dichtem Geſträuche oder hohem Graſe, daß man ihr oft lange vergeblih nachjagen muß; ſie ſucht ſich dur das Gebüſch fortzuſhleihen. Jn Spanien habe ih ſie ſo ſcheu gefunden, daß ih ihr wochenlang vergeblich nachſtellte. Äußerſt angenehm iſt die Heiterkeit dieſes Vogels. „Jh erinnere mich niht“, ſagt Naumann, „ſie im Freien jemals traurig geſehen zu haben; vielmehr läßt ſie an den ihr nahe wohnenden Vögeln beſtändig ihren Mutwillen dur<h Ne>en und Jagen aus, beißt ſi< au< wohl mit ihnen herum, verfliegt fich aber dabei niemals ſorglos ins Freie, ſondern bleibt klüglich immer dem Gebüſche ſo nahe wie möglich.“ Dasſelbe Betragen behält ſie nah meinen Beobachtungen auch im Süden oder auf ihrer Wanderung bei. Sie iſt überall dieſelbe, überall gleih aufmerkſam, überall gleich mißtrauiſch und überall gleich liſtig.

Bald nach ihrer Ankunft in Deutſchland macht die Dorngrasmüce Anſtalt zu ihrer Brut. Sie baut in dichte Büſche, Ried und langes Gras, ſelten mehr als 1 m über dem Boden, oft ſo niedrig, daß der Unterbau des Neſtes die Erde berührt. Die wie gewöhnlich aus Halmen zuſammengeſeßte dünne Wandung wird oft mit Schafwolle gemiſcht, die innere Ausfütterung aus den Spißen der Grashalme hergeſtellt. Schon in der zweiten Hälfte des April enthält das Neſt das volle Gelege, 4—6 in Größe, Geſtalt und Färbung außerordentlih abändernde Eier, welche dur<ſchnittlih 17 mm lang, 13 mm di>, auf elfenbeinweißem, gelbem, grauem oder grünlich gelbgrauem, auh wohl grünlichweißem und bläulihweißem Grunde deutlicher oder undeutlicher mit aſhgrauen, | cieferfarbigen, ölbraunen, gelbgrünen 2c. Punkten und Fle>en gewäſſert, gemarmelt, gepunktet und ſonſtwie gezeichnet ſind. Die Eltern betragen ſi< beim Neſte wie andere Grasmücken auch. Die zweite Brut folgt unmittelbar auf die erſte.

Im Käfige wird die Dorngrasmücke ſeltener gehalten als ihre Verwandten. Jhr Geſang gefällt niht jedem Liebhaber, verdient aber die allgemeine Mißachtung der Pfleger nicht, der Vogel daher mehr Schäßung, als ihm bisher zu teil geworden iſt.