Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

Lahmöwe: Weſen. Nahrung. Fortpflanzung. Gefangenleben. 115

Die Neſter ſtehen auf kleinen, von flachem Waſſer oder Moraſte umgebenen Schilf oder Binſenbüſchen, alten Rohrſtoppeln oder Haufen zuſammengetriebenen Röhrichts, unter Umſtänden auh im Sumpfe zwiſchen dem Graſe, ſelbſtverſtändlih nur auf ſ{hwer zugänglihen Stellen. Dux Niederdrü>en einzelner Schilf- und Grasbüſche wird der Bau begonnen, durch Herbeiſchaffen von Schilf, Nohr, Stroh und dergleichen weiter geführt, mit einer Auskleidung der Mulde beendet. Anfang Mai enthält jedes Neſt 4—5 verhältnismäßig große, dur<ſchnittlih 50 mm lange, 36 mm dite, auf bleih ölgrünem Grunde mit vötlih-aſhgrauen, dunkel braungrauen und ähnlichfarbigen Fle>en, Tüpfeln und Punkten bezeichnete, in Geſtalt, Färbung und Zeihnung mannigfah abändernde Eier. Beide Geſchlechter brüten abwechſelnd, anhaltend jedoch nur des Nachts; denn in den Mittagsſtunden halten ſie die Sonnenwärme für genügend. Nah einer 18 Tage währenden Bebrütung entſhlüpfen die Jungen; 3—4 Wochen ſpäter ſind ſie flügge geworden. Da, wo die Neſter vom Waſſer umgeben werden, verlaſſen ſie das Neſt in den erſten Tagen ihres Lebens nicht, auf kleinen Fnſeln hingegen laufen ſie gern aus ihm heraus und dann munter auf dem feſten Lande umher. Wenn ſie eine Woche alt geworden ſind, wagen ſie ſih au< wohl ſ{on ins Waſſer; in der zweiten Woche beginnen ſie bereits umherzuflattern, in der dritten zeigen ſie ſich ziemlich ſelbſtändig. Fhre Eltern ſind im höchſten Grade beſorgt um ſie und wittern fortwährend Gefahr. Jeder Raubvogel, welcher ſih von fern zeigt, jede Krähe, jeder Reiher erregt ſie; ein ungeheures Geſchrei erhebt ſih, ſelbſt die Brütenden verlaſſen die Eier, eine dihte Wolke ſhwärmt empor: und alles ſtürzt auf den Feind los und wendet alle Mittel an, ihn zu verjagen. Auf den Hund oder den Fus ſtoßen ſie mit Wut herab; einen ſih nahenden Menſchen umſhwärmen ſie in engen Kreiſen. Mit wahrer Freude verfolgen ſie den, der ſh zurü>zieht. Erſt nah und nach tritt wieder eine gewiſſe Ruhe und verhältnismäßige Stille ein.

Jm Norden Deutſchlands iſt es üblich, an einem gewiſſen Tage gegen die harmloſen Lahmöwen zu Felde zu ziehen und einen Vernichtungskrieg gegen ſie zu eröffnen, der Hunderten das Leben koſtet, glülicherweiſe aber auh einem und dem anderen der Teilnehmer einen Shrotſchuß mit einbringt. Das nutzloſe Blutvergießen, das unter dem Namen „Möwenſchießen“ als Volksfeſt gefeiert wird, erinnert an die Noheit der Südeuropäer und läßt ſi in keiner Weiſe entſchuldigen. Die Lahmöwen gehören niht, wie man früher hier und da wohl glaubte, zu den ſchädlichen, ſondern zu den nüßlichen Vögeln, die, ſolange ſie leben, unſeren Feldern nur Vorteil bringen. Die wenigen Fiſchchen, die ſie wegfangen, kommen der zahlloſen Menge vertilgter Kerbtiere gegenüber gar niht in Betracht; man ſollte ſie alſo ſhonen, auh wenn man ſih niht zu der Anſchauung erheben kann, daß ſie eine wahre Zierde unſerer ohnehin armen Gewäſſer bilden.

Gefangene Lahmöwen ſind allerliebſt, namentlih wenn man jung aus dem Neſte gehobene in ſeine Pflege nimmt. Dieſe verlangen allerdings zu ihrer Ernährung Fleiſchund Fiſchkoſt, gewöhnen ſi< aber nebenbei auh an Brot, ſo daß ihre Erhaltung in Wirklichkeit niht viel koſtet. Beſchäftigt man ſih eingehend mit ihnen, ſo werden ſie bald außerordentlich zahm, laufen dem Pfleger wie ein Hund auf dem Fuße nah, begrüßen ihn freudig, wenn er ſi zeigt, und folgen ihm ſpäter fliegend dur<h das Gehöft und den Garten, au< wohl auf das Feld hinaus. Bis gegen den Spätherbſt hin verlaſſen ſie den Wohnplat, den man ihnen angewieſen, nit; ſie entfernen ſich wohl zeitweilig und treiben ſih auh weit in der Umgegend umher, kehren aber immer wieder zur beſtimmten Fütterungsſtunde zurü>. Finden ſie unterwegs Artgenoſſen, ſo verſuhen ſie, dieſe mitzubringen und wiſſen in der Regel deren Mißtrauen ſo vollſtändig zu beſeitigen, daß die Wildlinge ſcheinbar alle Scheu vor dem Menſchen ablegen und fi wenigſtens eine Zeitlang in dem Gehege ihrer gezähmten Schweſtern aufhalten; ungeſtört kehren ſie dann gern wieder zurüd,

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