Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

952 Zehnte Ordnung: Stoßvögel; erſte Familie: Falkenvögel.

Morgen bis zum ſpäten Abend, oft no< in tiefer Dämmerung, ſieht man ihn in Thätigkeit. Von ſeinem Horſte aus, der immer den Mittelpunkt des von ihm bewohnten Gebietes bildet, fliegt er einzeln oder paarweiſe, im Herbſte wohl auh in größeren Geſellſchaften, mindeſtens im Verein mit ſeiner herangewacſenen Familie, auf das freie Feld hinaus, ſtellt ſi< rüttelnd über einem beſtimmten Punkte feſt, überſhaut von dieſem ſehr ſorgfältig das Gebiet unter ſi<h und ſtürzt, ſobald ſein unübertrefflih ſ<harfes Auge ein Mäuschen, eine Heuſchre>e, Grille oder ſonſt ein größeres Kerbtier erſpäht, mit hart an den Leib gezogenen Flügeln faſt wie ein fallender Stein zum Boden hinab, breitet, dicht über dieſem angelangt, die Fittiche wiederum ein wenig, faßt die Beute nohmals ins Auge, greift ſie mit den Fängen, erhebt ſi< und verzehrt ſie nun entweder fliegend, wie oben geſchildert, oder trägt ſie, wenn ſie größer iſt, zu einer bequemeren Stelle, um ſie dort zu verſpeiſen. Brütet das Weibchen auf den Eiern, ſo kündet er dur ein von ſeinem ſonſtigen Lo>rufe ſehr verſchiedenes, gezogenes und etwas ſrillendes Geſchrei ſhon von weitem ſeine Antunft und ſein Fagdglü>. Wird er von ſeinen im Fange no< ungeübtén Jungen umgeben, jo entſteht ein luſtiges Getümmel um den Ernährer, und jeder bemüht ſich, den anderen zu übervorteilen, jeder der erſte zu ſein, dem die Jagdbeute gereiht wird. Ein jolhes Familienbild gewährt ein überaus reizendes Schauſpiel: die treue Hingebung des Vogels an ſeine Brut läßt ihn no< anmutender erſcheinen, als er in Wirklichkeit iſt.

Je nah der Witterung ſchreitet der Turmfalke früher oder ſpäter zur Fortpflanzung. Vor Anfang Mai findet man ſelten, in vielen Fahren niht vor Anfang Juni, in Südeuropa ſelbſtverſtändlih {hon viel früher, das vollſtändige Gelege. Zum Horſte dient meiſt ein Krähenneſt, in Felſen und Gebäuden irgend welche paſſende Höhlung. Bei uns zu Lande horſtet er in alten Raben- oder Saatkrähenneſtern, in Norddeutſchland ebenſo in Elſterneſtern, in alten Beſtänden gern au< in Baumhöhlungen. Geſellig, wie ſeine nächſten Gattungsverwandten, bildet au<h er zuweilen förmliche Niſtanſiedelungen: man kennt Beiſpiele, daß 20—30 Paare in einem Feldgehölze friedlih nebeneinander horſteten. Fühlt er ſich vor ſeinem Erbfeinde, dem unverſtändigen Menſchen, einigermaßen geſichert, ſo kümmert ihn deſſen Thun und Treiben wenig; denn ebenſo wie über dem Volksgetriebe belebter Städte errichtet er hier und da ſeinen Horſt auf den Bäumen, die Hochſtraßen beſäumen. Jm Süden Europas tritt er in noch innigeres Verhältnis mit dem Gebieter der Erde. Hier wählt er, wie ſein Verwandter, der Nötelfalke, keineswegs ſelten Häuſer in Dörfern und Städten zur Anlage ſeines Horſtes, ſo wenig geeignet die Behauſungen auh ſein mögen. Um den Brutplaß muß er mit den Erbauern des von ihm benugßten Horſtes oft ernſtliche Kämpfe beſtehen; denn weder ein Krähen- noh ein Elſternpaar läßt ſi<h gutwillig von ihm vertreiben, und dem leßteren gegenüber fann er ſi<h ſogar genötigt ſehen, wiederholt beſiegt, inſofern ſi< zu Gaſte zu bitten, als er die Haube des Elſterneſtes zur Unterlage des dann von ihm ſelbſt zuſammengetragenen Geniſtes benußen muß. Die flache Mulde des Horſtes, der ſih von dem anderer Fangvögel wenig unterſcheidet, wird mit Wurzeln, Stoppeln, Moos und Tierhaaren ſpärlih ausgekleidet.

Das Gelege beſteht aus 4—9, in der Regel 4—6, rundlichen, auf weißem oder roſt: gelbem Grunde überall braunrot gefle>ten und gepunkteten, in Größe und Geſtalt vielfah abwechſelnden Eiern, deren größter Durchmeſſer 36—41 und deren kleinſter 29—32 mm beträgt. Sie werden zwar vorzugsweiſe vom Weibchen ausgebrütet; doh beteiligt ſich hieran zuweilen auh das Männchen, das ſonſt während der Brutzeit für Ernährung des Weibchens zu ſorgen hat: mein Vater beobachtete ſogar, daß das Männchen auf den eben ausgefrohenen Jungen hudernd ſaß, obwohl das Weibchen noch lebte. Als dieſes jedo< erlegt wurde, ließ jenes die Fungen ſterben. Wie bei den meiſten übrigen Raubvögeln fühlt es ſi<h wohl befähigt, Beute herbeizuſchaffen, iſt aber nicht im ſtande, ſie den zarten