Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

272 _ Zehnte Ordnung: Stoßvögel; erſte Fanilie: Falkenvögel.

zu bilden, und ſtellt dann den Oberbau in ähnlicher Weiſe her; unter Umſtänden aber genügen ihm au< {wache Reiſer. So unterſuchte Girtanner in Graubünden einen Adlerhorſt, der aus nichts anderem als einem ungeheuern Haufen dünner Föhren- und Lärchenreiſer beſtand und eine Höhe von 1, eine Länge von 3 und eine Breite von 2 m zeigte. Die betreffende Fel8niſche, offenbar entſtanden durch das Herausſtürzen eines großen Blockes, war von oben und von den Seiten ſo geſchübt, daß der Horſt kaum einer Kugel, geſchweige denn einem menſ<lihen Fuße erreihbar geweſen wäre; denn vorn hatte der Adler nur zu beiden Seilen eine Stelle freigelaſſen, auf welcher er fußen konnte; der vordere Nand des Horſthaufens überragte denjenigen des Bodens der Niſche, und es blieb für das Gelege, den brütenden Adler und die Brut nur im hinteren Winkel der Horſtſtätte eine ſehr vertiefte Stelle frei. „Mit dem gewaltigen Reiſerhauſen“, ſagt unſer Gewährsmann, hat der junge Adler eigentlih nichts zu ſchaffen, wohl aber {hüßt jener in erſter Linie das Gelege, das hinter ihm liegt, einigermaßen vor Sturm und Wetter, gegen Kälte und vor Schaden dur Windſtöße, erweiſt dieſelbe Wohlthat au<h dem brütenden Adler, der wohl trotdem bei der frühen Brutzeit der Kälte, dem Schnee und allem Unwetter ausgeſeßt ſein mag, und bewahrt ſpäter die Jungen in Abweſenheit ihrer Eltern vor dem Sturze in die Tiefe, da ſie den hohen, ſtahligen Wall wohl nicht ſo bald zu überſchreiten verſuchen dürften.“

Die Eier ſind verhältni8mäßig klein, ſehr rundlich, rauhſchalig und auf weißlichem oder grünlihgrauem Grunde unregelmäßig mit größeren und kleineren gräulichen und bräunlichen Fle>en und Punkten, die oft zuſammenlaufen, gezeihnet. Man findet ihrer 2—83 im Horſte, ſelten aber mehr als 2 Junge, oft nur ein einziges. Das Weibchen brütet ungefähr 5 Wochen. Die aus dem Eie geſchlüpften Jungen, die bereits in den erſten Tagen des Mai das Licht der Welt erbli>en, ſind wie andere Fangvögel dicht mit gräulihweißem Wollflaume bede>t, wachſen ziemlih langſam heran und werden kaum vor der Mitte, meiſt erſt Ende Juli flugfähig. Anfänglich ſien ſie faſt regungslos auf ihren Fußwurzeln, und nur der manchmal ſi<h bewegende Kopf verrät, daß ſie leben; ſpäter erheben ſie ſih dann und wann, neſteln ſehr viel im Gefieder, das beim Heranwachſen unbehaglihes Fuken zu verurſachen ſcheint, breiten von Zeit zu Zeit die no< ſtummelhaften Fittiche, ſtellen, indem ſie lebtere bewegen, gewiſſermaßen Flugverſuche an, erheben ſi< endlih auf die Zehen, trippeln ab und zu nah dem vorderen Nande und ſchauen neugierig in die ungeheure Tiefe hinab oder nah den erſehnten Eltern in die blaue Luft hinauf, bis ſie endlih das Neſt verlaſſen und ſih ſelbſt zu leßterer aufſ<wingen können. Beide Eltern widmen ſich ihnen mit hingebender Zärtlichkeit, und namentlih die Mutter zeigt ſi<h treu beſorgt, ihre Bedürfniſſe zu befriedigen. Solange ſie no< klein ſind, verläßt ſie kaum das Neſt, hudert ſie, um ſie zu erwärmen, trägt, wie Girtanner ſelbſt geſehen hat, tagtäglich friſche Lärchenzweige in das Neſt, um die vom Kote der Jungen beſ<mußten und benegten, die vorher weggeſchafft wurden, zu erſeßen und ſo den Kleinen ſtets ein tro>enes Lager zu bereiten, und ſ{leppt endlih mit dem Männchen im Übermaße Beute herbei, um ſie vor jedem Mangel zu ſchüßen. In der früheſten Jugend erhalten ſie nur Aßung, die bereits im Kropfe der Mutter vorverdaut iſt; ſpäter zerlegt ihnen dieſe die gefangene Beute; endlich tragen beide Eltern unzerfleiſ<hten Raub in den Horſt und überlaſſen es den Jungen, ihre Mahlzeit zu halten, ſo gut ſie vermögen, um ſie allgema<h an Selbſtändigkeit zu gewöhnen. Damit hängt zuſammen, daß beide Eltern eines Adlerpaares, mindeſtens das Weibchen, anfänglich ſih ſehr viel im Horſte aufhalten, wogegen ſie ſpäter, im Einklange mit der zunehmenden Entwi>elung ihrer Jungen, länger und auf weiterhin ſih entfernen und zuleßt, wenn ſie die Brut mit Nahrung verſorgt wiſſen, ſi< oft tagelang nicht mehr zu Hauſe ſehen laſſen. Gegen das Ende der Brutzeit hin ähnelt der Adlerhorſt einer Schlachtbank oder einer förmlichen Luderſtätte. Denn ſo ſorgfältig die Alten auh auf Erneuerung der Niſtſtoffe bedacht ſind,