Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 2/3

Steinadler: Fortpflanzung. Nahrungsverbrauch. Verfolgung. Zähmbarkeit. 273

ſo gleichgültig laſſen ſie die Neſtvögel zwiſchen den faulenden, im Horſte liegenden Fleiſchüberreſten und dem in Maſſe herbeigezogenen und dort entſtehenden Ungeziefer ſißen. Wie groß die Anzahl der Opfer iſt, die ihr Leben laſſen müſſen, um das zweier junger Adler zu erhalten, geht aus einer Angabe Bechſteins hervor, laut welcher man in der Nähe eines Horſtes die Uberbleibſel von 40 Haſen und 300 Enten gefunden haben ſoll. Dieſe Shäßung iſt vielleicht übertrieben: ſ{hlimm genug aber hauſt das Adlerpaar unter den Tieren der Umgegend, und zwar einer Umgegend im weiteren Sinne des Wortes, denn man hat beobachtet, daß es Reiher 20—30 km weit dem Horſte zuſchleppte. Jn einem Horſte, zu welchem ſi der Jäger Ragg am 2. Juli 1877 hinabſeilen ließ, lagen ein noh unberührtes und ein zu drei Vierteilen verzehrtes Gemskiß, die Neſte eines Fuchſes, eines Murmeltieres und von niht weniger als fünf Alpenhaſen. Dem kleineren Herdenvieh wird der Adler wäh: rend der Brutzeit zu einer wahren Geißel, dem Hirten zur ſ{limmſten Plage; kein Wunder daher, daß der Herdenbeſizer alles aufbietet, ſih des ſo furchtbaren Näubers zu erwehren.

Die Jagd des Steinadlers verlangt in den meiſten Fällen einen guten Bergſteiger und ſehr ſicheren Büchſenſchüßen; denn der Vogel iſt einzig und allein da, wo er noh niemals Nachſtellungen erfuhr, ſo vertrauensſelig, daß er unterlaufen und ohne ſonderliche Anſtrengungen beſchlihen werden kann, weitaus in den meiſten Fällen dagegen, und zwar ſchon in früher Jugend, ungemein vorſichtig und ſheu. Mit zunehmendem Alter ſteigert ſih ſein Mißtrauen ebenſoſehr, wie ſein Verſtändnis zunimmt. Auch er unterſcheidet den ihm unſchädlihen Menſchen von dem Jäger, raubt beiſpielsweiſe ungeſcheut in der Nähe des Hirten und flieht ſhon aus weiter Ferne den bewaffneten Mann, nimmt jedoch in der Regel das Gewiſſe für das Ungewiſſe und entzieht ſich weitaus in den meiſten Fällen rectzeitig jeder ihm drohenden Gefahr. Selbſt am Horſte ſeßt er die ihm eigne Vorſicht ſelten aus den Augen, und wenn ex vollends erfahren mußte, daß ſein Gatte dem mörderiſchen Blei erlag, iſt ihm gar niht mehr beizukommen. Am leichteſten gelingt es, auf ausgelegtem Luder ſeiner habhaft zu werden; doh darf man ſi längeres Warten in der benachbarten, wohlverde>ten Hütte niht verdrießen laſſen. Gefallenes Wild zieht er allem übrigen Aaſe vor, und wenn man in der Nähe eines ſolchen einen lebenden Uhu auſſtellt und ſi nebenbei in einen wohlverde>ten Hinterhalt legt, darf man mit ziemlicher Sicherheit auf günſtige Jagd re<hnen. So erzählte mir der Kronprinz Erzherzog Rudolf von Öſterreich, einer der eifrigſten und glü>li<hſten Steinadlerjäger, deſſen Erfahrung in dieſer Beziehung die manches alten, ergrauten Weidmannes bei weitem übertraf. Leichter als von dem Jäger läßt ſih der Adler dur Fallen berü>en; ein richtig geköderter Shwanenhals führt ziemlich ſicher zum Ziele; au<h ein Shlaggarn leiſtet gute Dienſte: ſo gebrauchen z. B. die Chineſen nur dieſes, um ſih unſeres Vogels zu bemächtigen.

Jung aufgezogene Adler werden bald zahm und menſchenfreundlih, gewöhnen ſich ſo an ihren Gebieter, daß ſie ihn vermiſſen, wenn er längere Zeit niht bei ihnen war, ihn mit fröhlichem Geſchrei begrüßen, wenn er wieder zu ihnen kommt, und ihm nie gefährlih werden. Mit ihresgleichen, au<h mit anderen großen Raubvögeln, vertragen ſie ſi in der Regel gut, aber doh wohl nur dann, wenn ſie ſi< überzeugt haben, daß ſie ihren Mitgefangenen nichts. anhaben können. Zu trauen iſt ihnen ebenſowenig wie allen übrigen Naubvögeln. Mehrere Junge namentli<h dürfen ohne ſtrenge Beaufſichtigung niht in einem engen Raume zuſammengehalten werden, weil ihnen no< genügende Erkenntnis fehlt und einer aus reinem Unverſtande über den anderen herfällt, ihn vielleicht erſt nach längeren Kämpfen meiſtert und dann mit aller Gemütsruhe verzehrt. Bei alten hat man ſolche Vorkommniſſe weniger zu fürchten, und wenn der Raum groß genug iſt, kann man ihnen auh Éleinere Raubvögel zugeſellen, deren Gewandtheit ſie vor etwa aufkeimenden räuberiſchen Gelüſten ſ{hügt. Die für ſie geeignetſten Genoſſen ſind offenbar die Geier,

Brehm, Tierleben. 3. Auflage. VI. 18