Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 6, S. 268
9928 Muſchellinge. Zweite Klaſſe: Armfüßer.
Klaſſe der Kopffüßer, eine andere der Bauchſüßer kennt, wurde nach einem analogen Namen geſucht, welcher die Eigentümlichkeit der neuen Abteilung jenen gegenüber ausdrü>en ſollte. Allein ſie ſind arm- und fußlos, ſie haben weder Arme, die ſih mit den um den Mund geſtellten Fang- und Gehwerkzeugen der Cephalopoden, noh einen Fuß, der ſi< mit der Sohle der Schne>e oder mit dem Keilfuße der Muſcheln vergleichen ließe. Die früheren Naturforſcher haben ihnen eine Beziehung angedichtet, welche nicht exiſtiert, und na< welcher man deshalb greifen zu können glaubte, weil eine andere, ebenfalls ungerechtfertigte Analogie dazu verleitete. Man bezeihnet nämlich mit dem Namen Armfüßer oder Prachiopoda eine Tiergruppe, die allerdings durch ein zweiklappiges Gehäuſe ſich auf das engſte an die Muſcheltiere anzuſchließen ſcheint, ſo eng, daß man bis in die neuere Zeit hinein ſie als eine bloße, den Nang einer Ordnung einnehmende Unterabteilung jener Klaſſe. anzuſehen gewohnt war. Jn zwei ſpiralig eingerollten Organen, welche neben der Mundöffnung entſpringen, glaubte man die zum Herbeiholen der Nahrung verwendbaren Werkzeuge erblicfen zu müſſen, indem man vielleiht unwillkürlich an die damals von Cuvier auch für Weichtiere geha!tenen Rankenfüßer (\. S. 67) dachte. Das Mißverſtändnis konnte um ſo cher ſich ein: niſten, als bis vor einigen 30 Jahren die Tiere faſt nie lebend beobachtet wurden, und erſt die neuere Zeit die Aufklärung brachte, jene vermeintlichen Fangarme ſeien gar nit im ſtande, dieſen Dienſt zu verrichten, ſie ſeien in Wahrheit die Kiemen. Die 1873 und 1874 veröffentlichten Unterſulhungen des Amerikaners Morſe und des Ruſſen Kowalewsky haben vielmehr die ſchon einmal von dem genialen Steenſtrup ausgeſprochene Anſicht, die Armfüßer ſeien extrem umgewandelte Würmer, bis zu einem gewiſſen Grade beſtätigt und durch die Darlegung der Anatomie und Entwicfelungsgeſchichte derſelben einigermaßen bekräftigt.
Es geht wohl aus dieſen Zeilen hervor, daß von den Lebens8äußerungen und Thaten dieſer Weſen wenig zu berichten ſein wird. Sie gehören zu den langweiligſten und verſhloſſenſten Mitgliedern der großen Lebewelt.
Glülicherweiſe ſind andere Seiten an ihnen der Beachtung und Betrachtung höchſt wert. Zuerſt will Kompoſition und Stil ihres Körpers verſtanden ſein, und indem uns dies zum größten Teil gelingen wird, finden wir in den Armfüßern das verkörperte Stabilitätsprinzip. Jn ihrer ungemeinen Paſſivität haben ſie ſeit den älteſten Perioden der tieriſhen Schöpfung, ſoweit ſie uns näher bekannt ſind, den Wechſel aller Lebensbedingungen über ſi hingehen laſſen und ertragen, ohne ſich weſentlih zu verändern. Die Blütezeit der Klaſſe iſt längſt vorüber; niht nux in Arten, ſondern no viel mehr in Jndividuenzahl wucherten ſie einſt ſo, daß ſtellenweiſe aus ihren Anhäufungen die Felſenſchichten entſtanden, und daß dem Geognoſten ihr Vorkommen ein unentbehrliches Hilfsmittel zur näheren Beſtimmung der Reihenfolge in den älteren Gebirgsformationen iſt. Wichtige Schlüſſe laſſen ſi aus der Übereinſtimmung der heutigen Armfüßer mit ihren älteſten Vorfahren auf die Beſchaffenheit der Urmeere ziehen. Jhr eigentliches Herkbommen aber, ihre wahrſcheinliche Blutsverwandtſchaft blieb bis in die neueſte Zeit verborgen, und die bloße Thatſache ihrer vollendeten Exiſtenz in den älteſten geſhichteten Geſteinen drängte unabweisbar für ſi allein ſcon zur Vorausſeßung, daß unſere ſogenannte Primordialfauna, d. h. die Tierwelt, welche wir bis jeßt als die älteſte anſehen zu müſſen glaubten, eine vielleicht ebenſo lange und ebenſo alte Reihe von Vorfahren gehabt hat, als von ihr bis zur heutigen Lebewelt nahgewiefen iſt.
Auch der Laie in der Zoologie wird geneigt ſein, wenn er die folgenden Abbildungen der Tiere flüchtig betrachtet, ſie für die allernächſten Verwandten der Muſcheln zu halten. Bei näherer Kenntnisnahme zeigen ſih aber doh die erhebli<ſten Verſchiedenheiten in dem Gehäuſe und in den Weichteilen dieſer Geſchöpfe, ohne daß vermittelnde Glieder die Herleitung der einen Klaſſe aus der anderen plauſibel machen könnten. Dagegen iſt die von Morſe durchgeführte Vergleihung mit den Ringelwürmern von ziemlichem Erfolg gewefen,