Der Gottesbegriff meister Eckharts : ein beitrag zur bestimmung der methode der Eskhartinterpretation

Aus dieser vermittelst des platonischen Begriffs der Teilhabe vollzogenen Umwendung von einer ontologischen zu einer logischen Problemstellung ergeben sich nunmehr die Folgerungen, die die thomistische Inkarnationslehre auflösen. Aus der Einheit des Begriffs der Menschheit folgt die Aufhebung der Wertunterschiede in den einzelnen Menschennaturen: „menschheit ist an dem ermsten oder versmehsten mensken alse volkomen als an dem bäbeste oder an dem keiser” (Pf. 10: 57,9)'*). Das Entscheidende ist nun aber, daß die Menschheit Christi wesenseins ist mit der Menschennatur überhaupt. Der Unterschied von würdigeren, heiligeren Menschennaturen in Christus, Maria oder den Heiligen und von geringwertigeren in den anderen Menschen®”), von dem vornehmen Erstgeborenen Christus und den niedrigeren nachgeborenen Menschenbrüdern wird von Eckhart grundsätzlich und endgültig beseitigt: „Waz hülfe mich, het ich einen bruoder, der dä w£re ein riche man und ich ein arme, er wise und ich ein töre?“ (Pf. 15: 64,27). Diese Erhabenheit Christi über seine Menschenbrüder tut Eckhart mit der verächtlihen Wendung ab: „werlich, ich gebe nicht vil dar umbe“ (ib.). Ein solches von den Menschen ohnmäctig zu akzeptierendes Faktum würde eine Entwürdigung des Menschen und Gottes bedeuten. Darum betont Ec&hart mit allem Nachdruck, daß Christus niht nur Mensch geworden sei, sondern daß er menschliche Natur angenommen habe*”), und, ohne das thomistische Reservat der natura in atomo zu beachten, zieht er gerade daraus die Folgerung, die Thomas durch jenen Vorbehalt vermeiden wollte: daß alle Menschen wegen der Einheit und Einzigkeit der Menschennatur fähig sind, Gottes Sohn zu werden, ja daß Gott gerade deswegen die Menschennatur angenommen habe, um grundsätzlih jedem Menschen die Gottessohnschaft zu geben‘”): „War umbe ist got mensche worden? Dar umbe daz ich got geboren würde der selbe!“ (Pf. 74: 235,35f). Dazu bedarf es zwar einer Zurüstung: der Abscheidung. Es müssen die akzidentellen Bestimmungen, welche die allgemeine Menschennatur, die Mensch-

=) Es ist darin nicht eine Gleichmadherei aller Menschen zu sehen, sondern aus der Gebundenheit mittelalterliher Anschauung die Tendenz zu verstehen, jedem Menschen grundsätzlich das höchste religiöse Erleben zuzuerkennen und dieses nicht auf einen kleinen Kreis auserwählter, bevorzugter Geschöpfe zu beschränken. Erst auf Grund einer allgemein möglichen religiösen Erfahrung kann überhaupt eine wissenscaftlihe Theologie aufgebaut werden, die nicht mehr Geheimlehre ist.

455) Pf. 13: 64, 31 —34.

0) Pf. 10:56,25 ff.; 13:64,29; 47: 158,1 ff.: 77: 250,17: 94: 306,28 ff.

#7) Pf, 10:56, 15—25.

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