Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

Talleyrand am Wiener Kongreß. 235

dieſelbe in nationaler Beziehung nah wie vor auszubeuten fortfuhren, und ſi< immer auf Grund ihrer früheren Thaten als die erſte unter den Nationen hinſtellten. Ludwig XVII. konnte ſich nihts von dem Ruhme Napoleon's aneignen, aber ex war auch nit geneigt, die dur deſſen Unfälle herbeigeführte Unterordnung Frankreichs unter die anderen Grof;mähte anzuerkennen. Er behauptete, ſo viel als möglich, die alte Stellung ſeiner Krone an der Spiße der europäiſchen Dynaſtien, und die völlige Gleichheit ſeines eben erſt beſiegten Staates mit den Siegern. Dieſer König wurde hierin treffli< von ſeinem erſten Bevollmächtigten am Kongreß, dem Fürſten von Talleyrand, unterſtützt, der mit einer ſonſt nie geſehenen Gewandtheit von der Rolle eines Unterhändlers des Direktoriums und des Kaiſerreiches zu der eines Vertreters der Intereſſen des Oberhauptes des Hauſes Bourbon, ohne Ueberwindung und Zwang, als ob es ſi ſo von ſelbſt verſtände, überzugehen wußte. Ungeachtet alles Deſſen, was eben erſt vorgegangen, und ungeachtet der Kongreß zum Theil gegen Frankreich gerihtet war, wußte es Talleyrand durchzuſetzen, daß ihm von den Plänen und Anordnungen der verbündeten Mächte, ſo weil fie allgemeine europäiſche Angelegenheiten betrafen, eine vollſtändige _ Veberſicht mitgetheilt , und er als ganz gleichberetigtes Mitglied zu den Verhandlungen der vier Großmächte zugezogen werden mußte; ja er er= reihte no< mehr, indem auf ſein Verlangen der Ausdru> „Verbündete““ von Großbrittanien, Rußland , Oeſterreih und Preußen bei den Be=rathungen aufgegeben wurde, indem er behauptete, daß, da Frankreich jeßt eine allen übrigen befreundete Macht ſei, jene Bezeichnung ſeit Napoleon's Sturz überflüſſig geworden und für Ludwig XVII. beleidigend ſei. — Es kam Talleyrand allerdings der Umſtand zu Hülfe, daß dur den erſten Pariſer Frieden Frankreih mit Europa wieder ausgeſöhnt war, und die revolutionaire und Napoleonſche Vergangenheit niht in Bez tracht gezogen werden ſollte; es gehörte aber immer eine ungewöhnliche Feinheit und Schärfe des Verſtandes dazu, um dieſe Verhältniſſe ſo zu benußen, wie er es that, und über ſo widerſprechende Erſcheinungen, wie ſie ſein Land in der lezten Zeit gewährt, einen täuſchenden Schleier zu werfen.

Die Urbeiten und Ergebniſſe des Wiener Kongreſſes laſſen ſi{< unter zwei Hauptgeſichtspunkte bringen : der Wiederaufbau eines europäiſchen Staatenſyſtems mit Herſtellung eines politiſchen Gleichgewichts, um die Wiederkehr ſo großer Erſchütterungen und Kriege wie während der leßten zwanzig Jahre zu verhindern — und die Anordnung der inneren Verhältniſſe Deutſchlands mit möglichſter Berü>ſichtigung des Be-=