Illustrierte Geschichte des Orientalischen Krieges von 1876-1878. : mit 318 Illustrationen, Plänen, Porträts und zwei Karten, S. 259
ſie ſind gewöhnlih mit geladenen Piſtolen bewaffnet und tragen die Patronen dazu auf der Bruſt. Als unſer Gewährsmann ſih neugierig in dem Dorfe umſah, verſammelten ſi< einige Tſcherkeſſen um ihn; es erregte ihr Mißfallen, daß derſelbe ſi<h Aufzeichnungen in ſeinem Taſchenbuche machte, und {on ſah er verdächtige Bewegungen, als er auf einen Wink ſeines Begleiters ſeine Brieftaſche wieder einſte>te und ſo vielleicht der Erdolchung entging.
Ein Menſchenleben iſ dort eine geringfügige Sache, zumal kaum eine gerihtli<he Verfolgung dur< einen Mord veranlaßt wird. Als der Begleiter des Reiſenden an einen Zaun im tſcerkeſſiſhen Dorfe anfuhr, ließen ſi< ſofort vier Flintenläufe aus verſchiedenen Fenſtern blicken. Es if eine große Unvorſichtigkeit von der türfiſhen Regierung geweſen, dieſe aus Rußland verbannten Tſcherkeſſen bei ſi< aufzunehmen und dadur<h Eigenthum und Leben der eigenen Unterthanen zu gefährden. Jn Rückſicht der Tartaren ſei no< zu erwähnen, daß ſie Leichen ver-
zehren. So iſt es in Tultſcha, der Hauptſtadt der Dobrudſcha, vorgekommen, daß ein Kind in Brot verba>en und aufgeſpeiſt
wurde.“
Von den angeſiedelten Tſcherkeſſen hat ſi< ein Theil dur< bulgariſhe Popen zur griechiſchen Kirche bekehren laſſen; jene aber, welche tiefer hinein im Lande wohnen oder herumziehen, ſind Osmanen geblieben. Einige Colonien Tſcherkeſſen in der Dobrudſcha gehören zur griechiſchen (ruſſiſchen) Kirche, find daher, als <riſtlihe Unterthanen vom Kriegsdienſt ausgeſchloſſen, während jene, wel<he Osmanen geblieben ſind, von der Pforte vorzüglih zum Kriegsdienſte herangezogen werden. Somit wurde den wilden Tſcherkeſſen in Bezug auf ihre Raubzüge und Schandthaten ein Privilegium gewährt.
Wie man ſieht, hat Rußland durh den Abzug der Tſcherkeſſen niht viel verloren; es hat die Banden wahrſcheinli<h mit Freude ziehen laſſen. Der Türkei aber gereichen ſie keineswegs zum Schutze und ſie ſind niht einmal eine nennen8werthe militäriſche Hilfe. Sie laſſen ſi< in die reguläre Armee nicht eintheilen, gehen {on in Friedens8zeiten nur auf Raub aus in Feindesund Freundesland und machen obendrein alle Anſprüche regulärer Soldaten.
Die Zahl der nah der Türkei in den beiden lebten Fahrzehnten eingewanderten T\cherke ſſen wird von den beſten Kennern des Reiches auf nicht weniger als eine Million angegeben. Der kleinere Theil dieſer Maſſe blieb in Aſien ; der größere kam na< Europa. Jn der Dobrudſcha allein find etwa zehntauſend; wieviel im ganzen Balkangebiete, läßt ſi heute nicht bere<hnen ; man ſagt, daß no< immer neue Horden vom Schwarzen Meere herüberkbommen, Sie gehören den zwei
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Hauptſtämmen an: den Adighe-Tſcherkeſſen und den Abchaſen. Zu ihren National-Eigenthümlichfeiten gehört vor Allem die Blutrache; ſie herrſcht in allen Colonien und in. aſſen Horden, und unter den heutigen Umſtänden i} natürlich niht daran zu denken, ſolche Verirrungen aus-
zurotten oder wenigſtens zu bekämpfen, wie es in Montenegro der Fall iſt. Die Montenegriner ſind überhaupt, den
Tſcherkeſſen gegenüber, als eine „hochciviliſirte Nation“ anzuſehen! Doch haben die beiden Bergvölker no< manche Aehnlichkeit mit einander; ſo iſt bei beiden der Krieg das Nationalhandwerk und bei beiden ſteht das Weib auf gleich niederer Stufe; bei den Tſcherkeſſen auf wo möglih noch niederer, denn es iſ nux eine Waare. So unglaubli<h es klingen mag, ſo iſt es doh Thatſache, daß viele Tſcherkeſſen-Stämme aus den von Ruſſen eroberten Gebieten ausgewandert ſind, niht etwa weil fie ſi< der ruſſiſhen Gewalt niht fügen wollten, ſondern — weil das rufſſiſhe Gouvernement den Weiberhandel unterſagte. Bei vielen der blutarmen Nahien (Bezirke) bildet nämlih der Weiber- und Kinderhandel den Hauptéwerbszweig. Der offene Handel nach Conſtantinopel und Alexandrien 2c. iſt jet zwar auch unterſagt, jedoch blüht derſelbe nah wie vor im Geheimen. Jn Stambul kennt Federmann die Häuſer, in welchen fortwährend der tſcherkeſſiſche „Weiber-Bazar“ etablirt iſt. Auf ſolchen Weiberund Kindermärkten finden ſi<h zuweilen wahre Perlen von Schönheit; doh iſ die Maſſe der „Waare“ nah unſerem Geſchma> unſchön, verfommen und immer unſauber und verthiert.
Auch Haſſan, der „Miniſtermörder“, fam auf dieſem Wege nah Conſtantinopel und in den Bereih des Serails. Haſſan gehörte einer Häuptlingsfamilie an; er wurde in Conſtantinopel erzogen, und zwar erhielt er „eine ſorgfältige Ausbildung“ in einem Militärinſtitute. Aber ſeine Lehrer klagten {on über ſeine unbändige Wildheit und Raufluſt. Er war ſpäter in Conſtantinopel bekannt als der beſte Fechter und Piſtolenſhüßze. Es iſt für gewöhnlih nicht thunlih, von einer einzelnen Perſon allgemeine Schlüſſe auf einen ganzen Menſchenſtamm zu ziehen; aber hier iſt dies vollfommen erlaubt. Haſſan war der echte, unverfälſchte Vergegenwärtiger des Tſcherkeſſenthums, wie es früher in unſägli< blutigen und erbitterten Kämpfen um ſeine Freiheit und feine Selbſtſtändigkeit rang und wie es heute das Balkangebiet mit Schre>ensfunden von ſeinen „Helden“- und Schandthaten erfüllt.
Die letzten Ereigniſſe und verübten Gräuelthaten der T\cherkeſſen zogen immer mehr die Aufmerkſamkeit der civiliſfirten Welt auf das {höne Bulgarien; man erkannte es leider nur als allzu richtig, daß die vorige türkiſche Regierung