Poimandres : Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchristlichen Literatur

200 VI. Das Hermetische Corpus.

dies und damit zugleich der Zusammenhang dieses Stückes mit dem vorausgehenden Corpus bedarf der Ausführung. Wir müssen auf die Theorie des Ev8oucıacuöc achten, die in der Rede angedeutet wird.

Es wäre eine lockende, aber meine Kraft übersteigende Aufgabe, den Wirkungen der Platonischen Lehre vom &vBoucıacuöc auf religiösem und ästhetischem Gebiete nachzugehen. Daß sie stärker wurden, als in den hellenistischen Reichen die Ekstase im Götterkult in ganz anderer Lebhaftigkeit den Griechen wieder vor Augen trat, scheint mir sicher. Die zahlreichen Beschreibungen religiöser Verzückung in der römischen Poesie werden ihre Vorbilder in der hellenistischen Diehtung gehabt haben.!) Schon Kallimachos bildet ja die poetische Vision der prophetischen nach; ein Traum entrückt ihn auf den Helikon, und er trinkt aus der heiligen Quelle wie der Prophet vor der Offenbarung.°) Aber derselbe Kallimachos hat auch dem Gegenbilde, der „Besessenheit“ in üblem Sinne, Interesse entgegengebracht°),

1) Vgl. die Beschreibung der Ekstase in der griechischen Übersetzung von Daniel 4, 16 z. B. mit Statius Achilleis I 514, Seneca Agam. 710 ff., Lukan V 169 ff. Völlig verfehlt urteilt Bousset a. a. 0. 375.

2) Oder wie z.B. in der Köpn xöcuou Horus, vgl. Poim. $ 29 und Anmerkung. Ganz aus Hermetischen Vorstellungen schöpft Philon De somn. Il 691M.

3) Das ist freilich noch wenig beachtet, aber m. E. sicher, seit Wilamowitz (Hermes XXXVII 314) Fragment 525 verbessert hat: xoAn d” ica yevra mäcaıo. Allbekannt ist ja Tibulls Schilderung der wahnsinnig gewordenen saga (1 5, 49 f.):

sanguineas edat illa dapes atque ore eruento tristia cum multo poeula felle bibat;

hane volitent animae eircum sua fata querentes semper, et e tectis strix violenta canat;

ipsa fame stimulante furens herbasque sepuleris quaerat et a saevis 055a relicta lupis,

eurrat et inguinibus nudis ululetque per urbes, post agat e triväis aspera turba canum.

Ich würde mit keinem Worte ausführen, daß wir hier eine Schilderung der Besessenheit "haben, die den neutestamentlichen Beschreibungen entspricht, wenn nicht Belling (Tibullus S. 106) gerade unsere Schilderung als literarische Stoppellese sogar aus Horaz Sat. I 8, 22#f. bezeichnet hätte. Weil Canidia mit nackten Füßen und gelöstem Haar Zauberkräuter und Totengebein sammeln geht (nicht aus Hunger!), will Tibull ihn überbieten: currat et inguinibus nudis, und weil Hekate von Hunden begleitet der Zauberin erscheint (Tih. I 2, 52), soll Tibull anstatt der Nachbarn, der turba vieinorum, die bei Horaz Epod. 5, 97 die Hexe steinigen wollen, die turba canum eingesetzt haben,