Poimandres : Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchristlichen Literatur

Zur Seelenlehre des Poseidonios. 255

gewollt und mußt das Leid der Erde tragen, um jener Wonnen teilhaftig zu werden. Poseidonios, den hier wohl jeder erkennt'), konnte so reden; Seneca nicht. Weder die Fortdauer, noch die Präexistenz der Seele, die nach eigenem Willen in die irdische Welt eintritt, konnte er als Dogma seinen Hörern bieten. Trotzdem sucht er in erkünstelter Weise eine freie Wahl der Seele zu konstruieren indem er zugleich die Züge des Bildes etwas verwischt. Gerade der Schmerz um den Verlust zeigt, daß die Seele die Güter des irdischen Daseins so hoch schätzt, daß sie zu leben erwählt hätte, wenn sie gefragt wäre. — Sie ist aber doch nicht wirklich gefragt worden und hatte keine Wahl. Gewiß, aber die Eltern hatten für uns die Wahl. Damit ist dem großartigen Bilde freilich alle wahre Wirkung genommen; aber ich kann mir wohl denken, daß ein Seneca es aus Freude an der rhetorischen Pracht, die hier zu entfalten war, sich nicht entgehen lassen wollte.

Die Beschreibung Siziliens unter Dionys und die Schilderung des Bioc und jener seligen Schau der Seele gehören zusammen und können ursprünglich nur für einander entworfen sein. Die Beschreibung Siziliens spielt in der ersten, an sich klareren und leichteren Fassung eine ganz untergeordnete Rolle; nur durch die Worte: post hane denuntiationem si quis dizisset intrare se Syracusas velle, satisne iustam querellam de ullo nisi de se habere posset, qui non incidisset in illa, sed prudens sciensque venisset gewinnt der Schriftsteller sich eine Überleitung zu dem dieit omnibus nobis natura: neminem decipio. tu si filios susceperis e. q.s. Aber die Erzeugung von Kindern und die Reise nach Syrakus sind rein äußerlich mit einander verglichen; die erste Fassung ist in Wahrheit die spätere.

Der Hergang scheint danach folgender. Seneca selbst, für den zwingend der Stil auch dieser ersten Fassung spricht, hat später eine sachlich wirkungsvollere Form einsetzen wollen, bei der freilich die Hälfte der rhetorischen Ausführung (hanc imaginem agedum bis in hanc nos sustulerunt) fortfallen mußte. Wenn wir sie doch im Texte lesen, so lassen sich natürlich zwei Erklärungen denken. Wer selbst die völlige Verwirrung, die Uhl in der Schrift De brevitate vitae nachgewiesen hat, dem eilfertigen Seneca zutraut, mag immerhin sagen, daß er in der Hast der Überarbeitung nicht merkte,

1) Vgl. unter anderem Wendland, Philos Schrift über die Vorsehung 8. 70 ff.