Poimandres : Studien zur griechisch-ägyptischen und frühchristlichen Literatur
Poimandres und Hermas. 33
Nach Abschluß des von der fünften Vision bis zum achten Gleichnis reichenden Buches macht der christliche Verfasser einen Nachtrag zu den Visionen, das neunte Gleichnis. Der äyreAoc TNc weravoiac führt ihn nach Arkadien auf einen Berg, ihm ein neues Gesicht zu zeigen. Das Führen auf einen Berg ist die übliche Form der christlichen Offenbarungsliteratur!), die Wahl gerade Arkadiens aber mehr als befremdlich, da ja der Verfasser in Rom lebt und sonst bei Rom oder bei Cumae seine Visionen sieht.?) Nun bezeugt der Eingang des XII. bezw. XIV. Kapitels des Poimandres, daß auch in der Hermetischen Literatur derartige Situationsschilderungen vorkamen; eine Unterhaltung beim Niederstieg von einem Berge war in einem Tevixöc Aöyoc berichtet; ob ihr eine Vision vorausging, ist nicht zu sagen. Daß Hermes auch in seiner Heimat Arkadien erscheint, kann nicht befremden. Berufen sich doch z. B. die Naassener auf das Kultbild von Kyllene, und haben doch „christliche“ Gemeinden im zweiten Jahrhundert Christus unter dem Symbol des Phallus, also entsprechend jenem Kultbild verehrt”) Aus Arkadien war gerade der ägyptische Hermes nach griechischer Auffassung gekommen‘); es ist durchaus möglich, daß sie in solehem Einzelzuge die Hermetische Literatur beeinflußte.
Wie weit diese heidnischen Vorstellungen die Theologie des christlichen Autors beeinflußt haben, d. h. wie weit die Erscheinung
1) Vgl. z. B. die Petros-Apokalypse, das Evangelium der Eva, die Höllenfahrt der Maria u. s, w.
2) So kam Zahn zu der unglücklichen Vermutung, es sei eic "Apıklav zu schreiben. Nicht nur wir, auch die römischen Leser hätten dann wohl gefragt, wie sich die folgende allgemeine Schilderung mit der allen bekannten Örtlichkeit in Einklang bringen lasse, und über die Torheit des Propheten gestaunt. Die Versuche, Hermas zum gebornen Arkader zu machen oder ihn in Rom ein Reisehandbuch über Arkadien studieren zu lassen, kenne ich nur aus Berichten. Harnack, der an der Lösung der Frage verzweifelt, weist zugleich auf Bursians Worte: „Je ärmer die Geschichte, desto reicher war der Sagenschatz des arkadischen Landes, welcher die Vorzeit desselben mit einem besonderen Schimmer von Heiligkeit‘ und Götterverwandtschaft umgab“ — für den Verfasser einer Hermetischen Schrift sicher, für den römischen Christen Hermas wohl weniger,
3) Vgl. Minucius 9, 4; Zwei religionsgesch. Fragen $. 96 A. 2.
4) Vgl. Cicero De nat. deor. II 56. Über die bis in den Anfang des zweiten Jahrhunderts zurückreichende Quelle vgl. W. Michaelis, De origine indieis deorum cognominum, Berlin 1898.
Reitzenstein, Poimandres. 3