Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 6.

156 _ Höheres Walten.

ihrem Opfer gehört, um Jeden glauben zu machen, ſie habe auh von dem Gift genoſſen, ſie ſei unſchuldig. Sie hatte den Reſt des Zuckers, mit Waſſer vermiſcht, weg= gegoſſen, ſie hatte die leere Düte, welche das Gift entz= halten, verbrannt — wer ſollte ſie anklagen! Fiel der Verdacht ihrer That auf das entlaſſene Dienſtmädchen um ſo’ beſſer, dann war ſie an dieſer gerächt.

Als ſie aus dem Schlummer erwachte, den ihr das Schlafmittel des Arztes verſchafft, beſichtigte ſie, ehe ſie die Schelle zog, um das Mädthen zu rufen, Alles in ihrer Umgebung, um zu prüfen, ob ſi<h ni<hts vorfände, was ihre That verrathen könne. Sie hätte ſich ſicher fühlen tfönnen, ſie hatte ja alle Spuren vertilgt und in der Nacht ſogar, als das Mädchen den Arzt geholt, das Gefäß ge= reinigt, in welches ſie den Neſt des vergifteten Zuckers geſchüttet, aber die Stille in der Wohnung war ihr u1= heimlich, beängſtigend, ſie hörte niht mehr das Schmerz= geſtöhn des Bruders — hatte die Hilfe des Arztes den= ſelben gerettet, oder —

Sie ſchauderte, ſie wagte das Gräßliche nicht zu den= fen. Sie hätte aufſtehen mögen und an der Thüre hor= chen, aber ihre Glieder waren ihr ſ{hwer, als läge Blei darin, und doch wallte ihr Blut, als wolle es die Adern ſprengen.

Sie zog mit zitternder Hand die Schelle. Das Mäd= chen erſchien. Sie mochte es aus den Zügen deſſelben leſen, daß eine düſtere Botſchaft ihrer harre, denn ſie vermochte faum einen Ton herauszubringen, als ſie fragen wollte, wie es ihrem Bruder exgehe. Sie ſtammelte einige Worte.