Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens : mit Original-Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Gelehrten. Bd. 3.

120 In lebter Stunde.

Die Generalin wax zu ſtolz auf ihren adeligen Shwa= ger geweſen, um ihn ganz zu vernachläſſigen, ſelbſt dann, als ihre Schweſter geſtorben war und ex ſich zum zweiten Male verheirathet hatte. Wohl wax die Korreſpondenz im Laufe der Jahre immer ſpärlicher geworden und hatte fich blos auf einige höfliche Worte beſchränkt, aber gänz= lich verſiegt war ſie doch nie, und Norbert in ſeiner Ver= einſamung na< der Mutter Tode erinnerte ſich jeßt der Tante Generalin, die na<h dem, was er gehört, nicht ge= rade in brillanten Verhältniſſen lebte, und er machte ihr den Vorſchlag, mit ihrer Tochter zu ihm zu ziehen, um als Repräſentantin in ſeinem Hauſe zu walten.

Die Genexralin war hoch entzü>t; jeht konnte ſie nah Hexzensluſt die vornehme Dame ſpielen, und da au<h Meline ſofort einwilligte, die Reſidenz zu verlaſſen, ſo war die Sache bald zur gegenſeitigen Zufriedenheit arrangirt.

Nun waren Mutter und Tochter auf S<hloß NRohnegg angelangt und von dem Hausherrn mit liebenswürdiger Zuvoxrkommenheit empfangen worden.

Wie vorauszuſehen geweſen, hatte Melinens eigenartige Schönheit ihren Couſin geblendet und bezaubert, und die junge Dame, welche mit keinem anderen Plane hieher= gefommen wax, als möglichſt {nell Frau v. Rohnegg zu werden, ſah mit Befriedigung, daß der Anfang ein günſti= ges Reſultat ihrer Erwartungen verſprach.

Mit geſchäftigen Händen hatte Meline ihre Muiter mit diſtinguirter Einfachheit gekleidet, und nun ſagte ſie, die Generalin lachend vor den Spiegel führend: „Nun, Mama, jebt kannſt Du Dich mix wiirdig zur Seite ſtellen!