Bitef

also er hat auch ein gewisses Bewußtsein von seinem Geisteszustand. Was heißt hier pathologisch? Er ist nicht krank geborn. Müller: Die andere Seite ist einfach, alle Psychiater schwärmen von den Krankengeschichten Shakespeares. Selbst wenn das eine Konvention ist, es stimmt aber trotzdem auch. Ich glaube, es ist ganz schwer, sich einfach so zu entscheiden, daß es nur Konvention, daß es nur gespielt ist. Das wäre, glaube ich, auch falsch. Besson: Und vor allem auf der Bühne passiert es dann so, daß die Konvention die Bühne ist. Das heißt: Wenn er an den Zuschauer sich wendet, wenn er den Clown macht für den Hof, und er drückt noch drauf, ist für ihn diese Krankheit auch ein Schutz gegen Widersprüche, die er nicht bewältigt. Aber es zerreißt ihn natürlich. Denn sonst könnte er niemals die Einfälle haben, die er hat. Wenn nicht was Echtes dahinter wäre. Er hat diese dreifache Bildung: diese Bildung als Kämpfer, also als Killer, jedenfalls stellt sein Vater für ihn dieses Kämpfer- und Killerideal ; zweitens hat er die Ausbildung eines musischen Menschen, eine enorme Sensibilität für Kunst aufgenommen, also auch für das Stadtleben, womit London viederum gemeint ist; dann Wittenberg : den wissenschaftlichen Drang hat er, den analytischen Drang, diese Art Skepsis: sich nicht zufriedengeben mit der ersten besten Wahrheit, Brechen von Vorurteilen; Wissen, also Bildung wie auch methodische Forschungsahnung. Wie ihn die Ophelia darstellt, ist richtig, er hat praktisch eine komplette Ausbildung der Zeit genossen, nur diese Bildung zerreißt ihn. Die Bildung als Killer widerspricht vollkommen der anderen, zumal sie historisch auch nicht mehr am Platze ist. .. Müller: Mir fällt die Hamlet-Interpretation von Nietzsche ein : Das ist ein Mann, der weiß mehr, als er ertragen kann, er weiß mehr, als er gebrauchen kann unter den Umständen, in denen er lebt und zu leben gezwungen ist. Und da ist glaub ’ ich ein Zusammenhang mit der Kritik an der Maxime »bereit sein ist alles«, die man ja wirklich interpretieren kann als Formel für Entfremdung oder Einverständnis mit der Entfremdung. Ein Kafka-Text dazu: Ich glaube, im » Prozeß « ist das, wo er schreibt, das Leben fordert von uns ständige Bereitschaft, aber wir haben so viel mit dem Überleben zu tun, daß wir gar keine Zeit haben, uns vorzubereiten. Ich glaube, da ist ein ganz materialistischer Punkt drin, der konkret eben heißt, daß man jede konkrete Situation, jeden konkreten Aspekt für sich voll und ernst nehmen muß. . . ... Wenn man die Klischees angeht, ist die Frage, wieweit der Hamlet dann noch ernst genug genommen wird in wichtigen Situationen, wieweit noch seine Qualität behauptet werden kann gegen den Abbau von Klischee, von Legenden und was da alles dranhangt? Besson: Ich glaube, daß diese Qualität nur erhalten werden kann, wenn dem Hamlet jegliche Behäbigkeit fehlt, wenn er absolut rastols, mit einer ungeheuren Energie und ständigem Einsatz alles macht. Sobald er irgendeine Form von Behäbigkeit an den Tag legt, wird die Figur läppisch. Müller: Ich glaube, daß die Qualität nur herzustellen ist über die Atomisierung der Figur. Besson: Was nennst du die Atomisierung?

Müller: Ich meine, daß man zunächst nicht ausgeht auf einen Charakter. Besson: Nein, das kann man nicht. Wenn man ihn angeht mit allgemeinem Charakterzeigen, und ihn nicht don Szene zu Szene, von Prozeß zu Prozeß, so wie er in jeder Szene ist, einfach durchmacht, verfolgt, dann ergibt sich gar nichts. In dem Sinne ist es ein bißchen ein Vabenque, wo man das Resultat erst am Schluß sieht. Weimann: Heiner Müller verwies auf Nietzsche. Der Nietzsche sieht ja den wachsenden Gegensatz zwischen Handeln und Denken in seiner Zeit. Er sieht den Widerspruch zwischen Wissen und Leben : Wir wissen alle zuviel, aber verstehen nichts mit dem Wissen anzufangen, es geht nicht in unser eigenes Leben ein. Hier ist die Wissenschaft, da das Leben, und die beiden Dinge passen nicht zusammen. Ich glaube, daß das aus der bürgerlichen Krise humanistischen Denkens (die Nietzsche formuliert) eine zeitgenössisch aktuelle Möglichkeit war, der Hamlet-Problematik von einer Seite beizukommen. Dabei wird Goethes in-induvidual-humanne Auffassung (»eine große Tat auf eine zu feine Seele gelegt«) bedenklich verallgemeinert, sowohl kritisch wie auch apologetisch. Deshalb ist für mich Eure Wertung von »bereit sein ist alles« doch etwas einseitig. Ich würde noch einen anderen Aspekt sehen und den auch betonen wollen,.. . Besson: Entschuldige, aber dazu mußt du noch daran denken: Vorher hat er gerade gesagt, ihm ist ganz schwer ums Herz. Das sagt er zu Horatio. Vollkommen unvermittelt. Das ist vielleicht einer der ungeheuerlichsten Sätze von Hamlet. Horatio ahnt ganz Schlimmes, eben dies Selbstmörderische in ihm (an der Stelle), und dann kommt die Sache: Ach, laß laufen! Weimann; Oder ist es doch mehr als: laß laufen? Der Autor kannte Montaigne gut und hatte vermutlich auch zu Giordano Bruno Zugang; es gibt bestimmte Gedanken von Bruno, die sind in diesem Stück. Das Ganze könnte also stehen als Teil einer, ich will mal sagen, Universalitätsproblematik : das humanistische Bild, wo zum Denken auch das Handeln gehört, wo zum Handeln auch die geistige Bildung gehört. Das ist doch im Stück als Klage oder als Forderung zu einem guten Teil lebendig. Ich würde hier nicht nur ein stoisches Resignieren sehen, das ist es vielleicht auch, sondern ich würde sagen, daß hier der Punkt ist, da sagt Hamlet, mir ist ganz beschissen zumute, aber wean’s drauf ankommt, ich muß mich der Sache stellen. In dem Augenblick nimmt er von der Universalitätsforderung ein kleines Stückchen mit zu sich rein, und insofern könnte man das ganz anders sehen. Natürlich sind Theaterstücke eben nicht nur Literatur. Das ist eine Stärke Eurer Argumentation, daß sie mit den Sinnen experimentieren kann : Der Inhalt von Theaterstücken ist erst dann voll ausschöpf bar, wenn sie nicht nur gelesen, sondern eben auch als Theater gemacht werden, vielleicht kommen da ganz neue Dinge zum Vorschein. Wenn du mich überzeugen kannst, wäre ich auch gern bereit, mich überzeugen zu lassen, noch glaube ich allerdings, daß da die Universalitätsproblematik drin ist. Müller: Aber auf Kosten des Materialismus, glaube ich, und das ist es, was wir meinten.