Bitef

Weimann: Natürlich steckt da was Utopisches drin, und seit es Ideologien gibt, muß man alle diese Ideen natürlich fragen, wieweit sind sie Hokuspokus, oder wieweit stehen dahinter bestimmte Perspektiven, bestimmte reale Kräfte, die damit etwas machen wollen. Müller: Das ist der Grund, warum ich so ketzerisch auf Nietzsche kam jetzt. Seine Humanismus-Kritik : da ist ein Punkt interessant, glaub ich, und produktiv, wenn er geht auf die Mißbrauchbarkeit von Wissen, von Ideen und der Leuchtkraft von Ideen, die Mißbrauchbarkeit von Utopie. Sobald der Bezug nicht mehr konkret ist auf die Situation oder auf Kräfte, die sie tragen oder die dahinter stehen, dann wird diese Leuchtkraft eben tödlich, dann brennt’s. Weimann: Hinzu kommt aber noch eins. Ich finde gerade gut an Eurer Inszenierung hier, daß Probleme der Subjektivität und der Individualität durchaus in ihrer Verklammerung mit großen gesellschaftlichen Dingen groß zur Sprache kommen. Und die Frage, die schon in der Totengräberszene anklingt, die Frage nach Tod und Leben, die wird von Hamlet natürlich fortgeführt : Er gibt da eine ziemlich nüchterne und konkrete Antwort, wohlgemerkt auch aus dem Ideenreservoir der Zeit. Aber seine Logik ist eine individuelle und eine allgemeine. . . Besson: Ich glaube, daß der Hamlet sein Gleichgewicht und ja sogar eine Art Humor auch über sich und über das, was um ihn her ist, erst wirklich ganz am Schluß erhält. Also wenn er stirbt. Ich meine, daß er mit Humor stirbt. Mit Humor meine ich nicht etwas Oberflächliches, sondern eine ganz tiefe. . . (Weimann: Heiterkeit?) Ja ( !?), na ja, aber auch nicht, wenn er sagt, zum Beispiel: Sagt dem Fortinbras (der sowieso meine Stimme haben wird, da ich sterbe), er hat meine sterbende Stimme. Das ist eine bittere Erkenntnis für ihn, daß sein Sterben gleichzeitig das Hochkommen wieder von Fortinbras ist, für deb er wirklich nicht ist. Und dann sagt er dem Horatio: Sag ihm mit allen Umständen, die auf dem Spiel waren, »der Rest ist Schweigen «. Und er, der so viel gequatscht hat wirklich, er hat nicht zu wenig gequatscht sagt : »Der Rest ist Schweigen «. Das ist ein ungeheuer tiefer Humor. Das ist erschütternd, mein’ ich. Und das soll der Horatio dem Fontinbras sagen, damit er mal auf den Teppich kommt. Und mal weiß, daß jede Existenz von jedem Menschen und daraus ist die Gesellschaft gemacht von Loch zu Loch geht, vom Schoß zum Grab. Und es gibt nur das und keine abstrakte menschkliche Gesellschaft drüber. Es gibt nur Verhältnisse zwischen konkreten Menschen, Individuen, die vom Schoß zum Grab gehen, alle, auh Fortinbras mit seinen großen Projekten. Das ist die eine ungeheure Erkenntnis von Hamlet meiner Ansicht nach (das ist schwer genug), weil das auch die Basis materialistischen Denkens ist über die Gesellschaft. Und da gibt’s die andre These, die der alte König im Schauspiel aufstellt, die für meine Begriffe ganz wesentlich ist: daß Vorsätze Sklaven der Erinnerung seien; das, was man sich vornimmt im Zustand der Leidenschaft, wenn die Leidenschaft wegfällt, plötzlich wie eine reife Frucht, sagt er, auch wegfällt. Aber daß die Menschen dann halten an ihren Vorsätzen, die dann sich verkehren. Die Vorsätze gingen

über die Zeit der Leidenschaft hinaus, und dann stimmen sie nicht mehr. Man müßte abdere sich vornehmen. Und dieser Wechsel, wenn er nicht operiert wird, führt zum Wahn, führt zum Selbstmord, führt zum Mord und so weiter. Diese enorme Erkenntnis ist eine materialistische Sicht, die der Hamlet da begründet, die der Shakespeare da begründet. Damit meint er überhaupt nicht, daß man keine Vorsätze haben darf. Nur, daß sie ständig überhrüfungswürdig sind. Der nächste nötige ist vielleicht im Widerspruch zum vorigen und so weiter. Man betont den Prozeß, wenn man sagt, man kann nicht von Charaktereigenschaften ausgehen, um den Hamlet zu spielen, außer von Grundeigenschaften meiner Ansicht nach —, wie ungeheurer Einsatz, Energie, Wachheit, Schub, Sensibilität und Intelligenz. . ■ Jede Szene für sich ist das ganze Stück es sind ja lauter Analogien: Der Laertes ist ein kzweiter Hamlet. Laerts geht den Weg von Hamlet am Schluß des Stückes haargenau, und Hamlet begegnet ihm, als würde er sich begegnen in einem Spiegel, aber in einem Zustand, wie er vorher war. Und die Verbrüderung der beiden ist echt erschütternd. Dieser Punkt von Hamlet, daß er Liebe sucht immerfort bei anderen Menschen. Er will keine Liebedienerei, er will echte Kontakte, er will Freundschaft oder Liebe. . . Ebenso meine ich, daß dieses »bereit sein ist alles « ein Moment der enormen Demoralisierung von Hamlet ist. Er reduziert sich auf ein » Was geht mich das an, was nach uns kommt. Nach uns die Sintflut !« Es ist eine absolut asoziale Haltung. Weimarm: Bleibt da noch die Spannung zwischen dem »Bereit-Sein« und der von Benno herausgearbeiteten heiteren Überlegenheit, mit der Hamlet Schluß macht. Müller: 810ß, auch die muß man wieder relativieren oder in Relation setzen dazu. Seine Aufgabe, wenn man so was annehmen will, wäre doch eher, sich darum zu kümmern, was wird, wenn dieser Idiot Fortinbras da mit seinen Mannen einreitet. Diese Heiterkeit geht ein bißchen auf Kosten der Gesellschaft. Besson: Genau. Die wird auch dramaturgisch von Shakespeare widerlegt auf eine Weise, die kracht. Nämlich, »der Rest ist Schweigen«, sagt Hamlet. Und der Horatio ruft » Engelchen «, damit sie ihn zur » Ruhe « tragen sollen. Kaum hat er das gesprochen, als mit krachendem Getöse die Armee von Fortinbras einbricht. Mit Salven und mit Trommeln und mit Trompeten. Und dann läßt er schißen. Läßt schießen ! Das ist ein furchtbarer Hohn. . . Der Schluß endet mit einem Wahnanfall. Damit nicht weitere Irrtümer und Verbrechen passieren, sieht man das Gespenst weiterer Verbrechen am Schluß. So ist die Geschichte. Der Horatio muß entsetzt sein, wenn so etwas passiert. Was der organisiert, dieser Kerl. Weimann: Es ist möglich, daß das eine Entdeckung ist. Aber bei Shakespeare ist der Stückschluß sozusagen Teil auch einer dramaturgischen Strategie. Das ist beinahe gesetzmäßig auch in den anderen Tragödien. Am Ende wird der Versuch gemacht, die Fäden zusammenzunehmen, und da kriegt das Stück, in dem es sich also öffnet für die