Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/2
620 Siebente Ordnung: N ager; dreizehnte Familie: Haſen.
Sie verzehren die Pflanzen von der Wurzel bis zur Frucht, wenn ſie auch die Blätter niederer Kräuter am liebſten genießen. Die meiſten leben in beſchränktem Grade geſellig und halten ſehr treu an dem einmal gewählten oder ihnen zuerteilten Standorte feſt. Hier liegen ſie den Tag über in einer Vertiefung oder Höhle verborgen, des Nachts dagegen ſtreifen ſie umher, um ihrer Nahrung na<hzugehen. Sie ruhen, ſtreng genommen, bloß in den Mittagsſtunden und laufen, wenn ſie ſi< ſiher fühlen, au<h morgens und abends bei hellem Sonnenſchein umher. Jhre Bewegungen ſind ganz eigentümlicher Art. Die bekannte Schnelligkeit der Haſen zeigt ſih bloß während des vollen Laufes; beim langſamen Gehen bewegen ſie ſi<h im höchſten Grade ungeſchi>t und tölpelhaft, jedenfalls der langen Hinterbeine wegen, welche einen gleihmäßigen Gang erſhweren. Doch vermögen ſie au<h Wendungen aller Art im ſchnellſten Laufe zu machen und offenbaren eine Gewandtheit, welche man ihnen niht zutrauen möchte. Das Waſſer meiden ſie, obwohl ſie im Notfalle über Flüſſe ſetzen.
Unter ihren Sinnen ſteht unzweifelhaft das Gehör obenan: es erreicht hier eine Ausbildung wie bei wenig anderen Tieren, unter den Nagern unzweifelhaft die größte; der Geruch iſt ſ{<wächer, do< auh nicht übel, das Geſicht ziemlich gut entwi>elt. Die Stimme beſteht aus einem dumpfen Knurren, und bei Angſt in einem lauten, fläglihen Schreien. Die zur Familie gehörenden Pfeifhaſen bethätigen ihren Namen. Unterſtüßt wird die Stimme, welche man übrigens nur ſelten hört, dur< ein eigentümliches Aufklappen mit den Hinterbeinen, welhes ebenſowohl Furcht wie Zorn ausdrüden und zur Warnung dienen ſoll. Jhre geiſtigen Eigenſchaften ſind ziemlih gegenſäßlicher Art. Jm allgemeinen entſprechen die Haſen niht dem Bilde, welhes man ſi<h von ihnen ma<ht. Man nennt ſie gutmütig, friedlih, harmlos und feig; ſie beweiſen aber, daß ſie von alledem auh das Gegenteil jein können. Genaue Beobachter wollen von Gutmütigkeit nihts wiſſen, ſondern nennen die Haſen geradezu boshaft und unfriedlih im höchſten Grade. Allbekannt iſt ihre Furcht, ihre Aufmerkſamkeit und Scheuheit, weniger bekannt die Liſt, welche ſie ſi< aneignen und mit zunehmendem Alter auf eine wirklih bewunderungswürdige Höhe ſteigern. Auch ihre Feigheit iſt nicht ſo arg, wie man glaubt. Man thut ihnen jedenfalls unre<t, wenn man dieſe Eigenſchaft ſo hervorhebt wie Linné, welher den Schneehaſen für ewige Zeiten mit dem Namen eines Feiglings gebrandmarkt hat. Ein engliſher Schriftſteller ſagt ſehr treffend, daß es kein Wunder iſ, wenn die Haſen ſih feig zeigen, da jeder Leopard, jeder Tiger und Löwe ſein Heil in der Flucht ſuhen würde, wenn 20, 30 Hunde und wohlbewaffnete Jäger ihn während ſeiner Ruhe aufſuhen und mit ähnlihem Blutdurſte verfolgen wollten wie wir die armen Schelme.
Wenn auch die Vermehrung der Haſen niht ſo groß wie bei anderen Nagern iſt, bleibt ſie doh immerhin ſtark genug, und der alte Aus\ſpruch der Jäger, daß der Haſe im Frühjahre ſelbander zu Felde ziehe und im Herbſte zu 16 zurü>kehre, hat an Orten, wo daë Leben unſerem Lampe freundlih lacht und die Verfolgung nicht allzu ſ{hlimm iſt, ſeinen vollen Wert. Die meiſten Haſen werfen mehrmals im Jahre, manche 3—6, ja bis 11 Junge; faſt alle aber behandeln ihre Sprößlinge in einer überaus leihtſinnigen Weiſe, und daher kommt es, daß ſo viele von dieſen zu Grunde gehen. Außerdem ſtellt ein ganzes
Gerippe des Haſen. (Aus dem Berliner anatomiſhen Muſeum.)