Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3, str. 294
258 Elfte Ordnung: Paarzeher; dritte Familie: Horntiere.
Jn früheren Zeiten war das freilih anders; denn der Wiſent verbreitete ſih na<hweisli<h über ganz Europa und über einen großen Teil Aſiens. Zur Zeit der Blüte Griechenlands war ex in dem heutigen Bulgarien häufig; in Mitteleuropa ſand er ſi faſt überall. Ariſtoteles nennt ihn „Bonaſſus“ und beſchreibt ihn deutlih; Plinius führt ihn unter dem Namen „Biſon“ auf und gibt Deutſchland als ſeine Heimat an; Calpurnius beſpricht ihn um das Jahr 282 n. Chr.; alte Schriſten erwähnen ſeiner im 6. und 7. Jahrhundert, das Nibelungenlied als im Wasgaue vorkommend. Zu Karls des Großen Zeiten fand er ſich im Harze und im Sachſenlande, um das Fahr 1000, na< Ekkehard, als ein bei St. Gallen vorkommendes Wild. Um das Fahr 1378 lebte er in Pommern, im 15. Jahrhundert in Preußen, im 16. in Litauen, im 18. zwiſchen Tilſit und Labiau in Oſtpreußen, woſelbſt der leßte ſeiner Art ſogar erſt im Jahre 1755 von einem Wilddiebe erlegt wurde.
Die Könige und Großen des Reiches Polen und Litauen ließen ſi die Erhaltung des Wiſents mit Eifer angelegen ſein. Man hielt ihn in beſonderen Gärten und Parken, ſo z. B. bei Oſtrolenka, bei Warſchau, bei Zamosk 2c. Die mehr und mehr ſih ausbreitende Bevölkerung, die Urbarmahung der Ländereien machte ſolhen Schuß mit der Zeit unmöglich. Noth hielt er ſi< eine Zeitlang in Preußiſch-Litauen und namentlih in der Gegend zwiſchen Labiau und Tilſit, wo die Forſtbeamten ihn ſhüßten und zur Winterszeit in einer offenen Futterſcheuer mit Nahrung verſorgten. Nur höchſt ſelten fing man einige Stüte ein, welche dann gewöhnlih zu Geſchenken für fremde Höfe benußt wurden. So gelangten im Jahre 1717 ihrer zwei an den Landgrafen von Heſſen-Kaſſel, ebenſo viele an den König Georg von England und 1788 einige an die Kaiſerin Katharina von Rußland. Eine allgemeine Seuche vernichtete im Anfange des 18. Fahrhunderts den größten Teil dieſer Herden, bis endlich der erwähnte Wilddieb dem legten das Lebensliht ausblies. Fedenfalls würde es den im Forſte von Bialowitſh lebenden Wiſents nicht anders ergangen ſein, hätten die Könige von Polen und ſpäter die Kaiſer von Rußland das ſeltene Tier der Jeßtwelt niht erhalten.
Länger als in Preußen lebte, nah mir gewordenen Mitteilungen des verſtorbenen Grafen Lázár, der Wiſent in Ungarn und namentlich in dem waldreichen Siebenbürgen, worauf auc der Umſtand hindeutet, daß das Volk, vielleicht zur Erinnerung an glü>liche Fagden, manchen Berg, manche Quelle und ſelbſt Drtſchaften nah ihm benannt hat. Jn der Thurociſchen Chronik, welche zur Zeit des Königs Matthias 1. gedru>t wurde, finden ſi reichverzierte Anfangsbuchſtaben, welche damals übliche ungariſche Gebräuche darſtellen, und in einem derſelben die Abbildung eines ungariſchen Königs zu Pferde mit der Krone auf dem Haupte, die hoh erhobene Lanze nah einem dahinraſenden Wiſent ſ{hwingend. Zur Zeit der Fürſten Siebenbürgens kam dieſer häufig vor, und es ſteht ziemlihh feſt, daß ſein Fell no< im 17. Jahrhundert vielfältig verwandt wurde. Erwieſenermaßen hauſte er no< im Jahre 1729 in den Gebirgswaldungen Ungarns und noch gegen Ende des vorigen Fahrhunderts in den Szekler Bergwaldungen unweit der Ortſchaft Füle.
Bevor ih zur Leibes- und Lebensbeſchreibung des gedachten Wildrindes übergehe, muß ih bemerken, daß ih unter dem Namen Wiſent dasſelbe Tier verſtehe, welches vielfah Ur, Auer oder Auero<s genannt wird. Mit leßterem Namen bezeichneten aber unſere Vorfahren ein von jenem durchaus verſchiedenes, längſt ausgeſtorbenes Rind.
Wenn man die Schriften der Naturkundigen früherer Fahrhunderte mit Aufmerkſamkeit durlieſt, gelangt man zu der Anſicht, daß vormals zwei wilde Rinderarten in Europa nebeneinander gelebt haben müſſen. Alle älteren Schriftſteller unterſcheiden die beiden Tiere beſtimmt; altdeutſche Geſetze und Jagdberichte aus vergangenen Fahrhunderten ſprechen von zwei gleichzeitig lebenden Wildrindern und beſchreiben die beiden mit hinlängliher Genauigfeit. Da wir den Wiſent no< zur Vergleihung vox uns haben und an ihm ſehen können,