Brehms Tierleben eallgemeine Kunde des Tierreichs : mit 1800 Abbildungen im Text, 9 Karten und 180 Tafein in Farbendruck und Holzschnitt 1/3

Kulan: Wanderungen. Herdenleben. Fortpflanzung. 63

Hengſt ſammelt die meiſten Stuten um ſih, der junge, noh unerprobte, die wenigſten Solange ein Hengſt no< niht mannbar iſt, wird ex im Trupp geduldet, ſobald er ſich zu fühlen beginnt, rüdſihtslos vertrieben. Wochen- und monatelang geht er einſam umher, und neidvoll bli>t ex aus der Ferne auf das Glüd des ſtärkeren und älteren Hengſtes, bis quälende Eiferſucht in ihm Kampfesmut entfaht und ihn zu den geſchilderten Herausforderungen treibt. Pallas gibt die Erzählung der Eingeborenen wieder, daß alte Hengſte zur Sprungzeit junge Stuten, welhe no< niht roſſig ſind, aus dem von ihnen geleiteten Trupp verjagen und dadurch jüngeren Mitbewerbern Gelegenheit zur Bildung einer Genoſſenſchaft verſchaffen: die Angabe erſcheint begründet, da die Kirgiſenpferde genau ebenſo verfahren. E

Geſelligkeit iſt ein Grundzug des Weſens unſeres Wildpferdes und aller Einhufer überhaupt. Ebenſo wie Zebra, Quagga und Dauw den Herden der afrikaniſchen Antilopen und der Strauße ſi< zugeſellen, ſieht man den Dſchiggetai im Hochgebirge gemeinſchaftlih mit verſchiedenen Wildſchafen, der Tibetantilope und dem Grunzochſen , in den Tieſebenen mit Kropf- und Saiga- Antilopen weiden. Auch mit verſprengten Pferden hält er gute Gemeinſchaft. Ruſinoff ſchreibt mir, daß die Pferde die Kulane fürchten und ſih von ihnen entfernen ſollen, weil ihnen die Ausdünſtung der verwandten Tiere widerlich zu ſein ſcheine: dies wird dur wenigſtens eine eigene Beobachtung nicht beſtätigt. Als wir am 3. Juni des Jahres 1876 die erwähnte Steppe am Saiſanſee dur<ſ<nitten und wiederholt auf Kulane ſtießen, ſahen wix einmal au< zwei Einhufer, welche wir für Wildpferde halten mußten, auf dem Rücken eines langgeſtre>ten Hügels ſtehen. Das eine von ihnen entfloh bei unſerer Annäherung; das andere kam geradewegs auf uns zu: es war ein Pferd. Es mochte ſeiner Herde entlaufen ſein, ſi<h in der Steppe verirrt und, in Ermangelung einer ihm beſſer zuſagenden Geſellſchaft, Kulanen angeſchloſſen haben; jeßt verließ es dieſe, um wiederum ſeinesgleihen ſi<h anzuſchließen. Widerſtandslos ließ es ſih fangen und zäumen, und wenige Minuten ſpäter trabte es ſo gleihmütig neben unſeren Reittieren einher, als hätte es niemals vollſte Freiheit gekoſtet.

Das liebſte Futter der Kulane iſt Steppenwermut oder eine ſtrauchartige, ſtachlige Pflanze, Bajalyſh geheißen, welche namentlih in der Hungerſteppe häufig vorkommt. Auf ihren Wanderungen müſſen die ſonſt ſehr wähleriſchen Tiere ſih bequemen, auh andere in der Steppe wachſende Kräuter und Gräſer abzuweiden, und im Winter ſich oft längere Zeit mit Schößlingen von Tamarisken und anderen Sträuchern begnügen, obſchon ſolche Äſung ihnen ſo wenig zuſagt und ſie derartig von Kräften bringt, daß ſie wandernden Gerippen gleichen. Bei ſpärlihem Futter weiden ſie faſt zu jeder Stunde des Tages, bei reichlicher Weide ſind ſie mit dem Aufnehmen ihrer Nahrung ebenfalls ſehr lange beſchäftigt; nah Sonnenuntergang pflegen ſie der Nuhe, jedoch, wie die Kirgiſen verſichern, immer nur kurze Zeit.

Über die Roß- und Fohlzeit des Kulans lauten die Angaben verſchieden. Fm Weſten des Verbreitungsgebietes fällt erſtere in die Zeit zwiſchen Mitte Mai und Mitte Juli, leßtere ungefähr einen Monat früher; denn die Tragzeit ſtimmt mit der unſeres Pferdes überein. Hays Meinung, daß der Kiang in Tibet im Winter fohle, wird zwar von ihm durch die Bemerkung unterſtützt, daß eine von ihm im Auguſt erlegte Stute ein faſt ausgetragenes Fohlen trug und er im Sommer niemals Fohlen ſah, welche unter 6 Monate alt ſein konnten, dürfte aber doh irrtümlih, mindeſtens nur ausnahmsweiſe zutreffend ſein. Wir fingen ein offenbar erſt wenige Tage altes Fohlen des Kulans am 8. Juni ein.

Wer jemals Kulane in ihrer Heimat und in vollſter Freiheit ſah, wird nicht anſtehen, ſie als hohbegabte Tiere zu bezeihnen. Bezaubert folgt das Auge ihren Bewegungen; entzü>t und erſtaunt zugleich verſucht es, die unvergleichliche Behendigkeit der flüchtigen Tiere zu erfaſſen. „Das wundervollſte Schauſpiel“ ſagt Hay, gewiß mit vollſtem Rechte, vom