Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

Mangel an polîtiſ<em Bewußtſein in Deutſchland. 255

nah einem Bande feſterer Vereinigung, obgleich faſt mit Beſtimmtheit vorausgeſehen werden konnte, daß ein ſolhes unter den vorhandenen Umſtänden nicht aufgefunden werden würde.

Außer den eigentlichen politiſchen Leitern des Kongreſſes, gab es bei demſelben au< eine Anzahl bedeutender Männer von ät vaterländiſcher Geſinnung, ſeltener Erfahrung und reichem Wiſſen, unter denen vor Allen Stein und Gagern genannt werden müſſen, welche aus den alten Einrichtungen Deutſchlands, was ihnen der Erhaltung würdig ſchien, zu retten, mit den Bevürfniſſen der Gegenwart zu verbinden, und dadurh einen Bau herzuſtellen dachten, welcher dem deutſchen Volke mehr Einheit und Freiheit im Innern, mehr Sicherheit und Macht nah Außen gewähren konnte. Dieſe dur< Charakter und Geiſt glei ſehr hervorragenden Männer waren trefflich dazu geeignet, die alten Schäden des deutſhen Staatslebens nachzuweiſen, gegen ihre Wiederkehr zu war= nen, allgemeine Anſichten über die Urſachen der Größe und des Verfalles der Völker aufzuſtellen, vermochten aber nicht, ſobald von einer wirklichen Wiederherſtellung für Deutſchland die Rede war, etwas Mögliches und Ausführbares vorzulegen. Sie ſ{wankten zwiſchen Altem und Neuem hin und her, und ihre Pläne entbehrten der thatſä<hlihen Anwendbarkeit, ohne die in der Politik Alles nur Schatten und Traum iſ. Es war dies weniger die Schuld dieſer ſonſt ſehr begabten Perſönlichkeiten, als eine Folge der Zerriſſenheit und Verwirrung der deutſchen Zuſtände ſelbſt, der Gleichgültigkeit in der großen Mehrheit der Nation gegen Alles, was nit die Bedürfniſſe des beſonderen Daſeins betrifft, der unklaren Vorſtellungen in den gebildeten Klaſſen, der Selbſtſucht der früher bevorre<htet geweſenen Stände, die, nah der Hinwegräumung Napoleon's, nur an die Erneuerung ihrer geſhmälerten oder verlorenen Vortheile dachten. Es fehlte dem deutſchen Leben nah wie vor den Befreiungs= kriegen an einem gemeinſamen Pulsſchlage, und an dem Schwunge des Geiſtes, ohne den ſelbſt ein leichteres Werk, als eine Regeneration Deutſchlands, nicht zu Stande kommen konnte. Weder der politiſche Verſtand der Einen noch die patriotiſche Begeiſterung der Anderen konnte dazu ausreihen. Die Gleichgültigkeit der Maſſen zog Alles mit ſi herab. Die Ideen ſind die Arbeit Einzelner, aber zu ihrer Verwirklihung gehört, beſonders in einer Zeit, die von Parteien zerriſſen iſt, und, zwiſchen Vergangenhelt und Gegenwart ſhwankend, einer einmüthi= gen Richtung entbehrt, die Empfänglichkeit und Bereitwilligkeit des Vol= kes, deſſen Zuſtimmung allein den Ausſchlag zu geben vermag.

Verſchiedene Meinungen über eine Neugeſtaltung Deutſchlands er=