Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

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Napoleon bei La Mure. — Einzug în Grenoble. 271

die Bruſt gekreuzten Armen, wie in tiefes Nachdenken verſunken, gegen die entgegenſtehenden Reihen vor. Der Commandeur des Bataillons befahl, ſich zum Feuern bereit zu machen. Jn demſelben Moment richtete Napoleon, der bis auf zehn Schritt an die Bajonette herangekommen war, ſich plößlih empor, erhob das Haupt, breitete ſeine Arme aus und rief mit weithin ſcallender Stimme: „Soldaten des 5. Linienregiments! Gibt es Jemanden unter Euch, der auf ſeinen Kaiſer ſchießen kann, ſo thue er es! Hier bin ih!“ — Der Anbli> und die Worte wirkten unwiderſtehlich. Es entſtand eine tiefe Stille. Die Gewehre ſenkten ſich , manchen Offiz cieren fielen die Degen aus der Hand. Endlich brach der allgemeine Ruf : „Es lebe der Kaiſer!‘ hervor. Die hinter Napoleon zurü>geblie= benen Soldaten von Elba eilten herbei, und umarmten ihre Kameraden, welche die weißen Kokarden von ihren Hüten abriſſen, und die in ihren Torniſtern wie Reliquien aufbewahrten dreifarbigen aufſte>ten. Der erſte Beweis von dem Zauber, den Napoleon's Gegenwart auf die Her= zen der Soldaten ausübte, das erſte Zeichen zum Abfalle war gegeben, und das Unternehmen geglü>t. Dieſem erſten Beiſpiele folgte glei ein zweites. Der Oberſt Labedoyere, ein junger Mann von 29 Zahren, aus einer altadeligen, den Bourbonen beſonders ergebenen Familie, der eben erſt von Ludwig XVII. den Befehl über ein Regiment erhalten hatte, führte daſſelbe Napoleon zu und warf ſi in deſſen Arme. Die vereinigten Schaaren zogen jeßt auf Grenoble, deſſen Thore noh ge¡hloſſen und die Wälle mit Kanonen beſet waren. Aber vas Volk im Innern räumte alle Hinderniſſe fort. Die Beſatzung ging über. Napoleon hielt am Abend unter Fa>elſchein ſeinen Einzug in Grenoble, das für ihn der Schlüſſel von Frankreich war. Jett blieb ihm nur no< Lyon zu gewinnen übrig. Von Paris hatte er, ungeachtet der Kern dieſer Bevölferung dem Bonapartismus durchaus nicht zugethan war , keinen bez deutenden Widerſtand zu beſorgen. Nach Allem, was geſchehen, mußte es jet Napoleon, wie das Jahr vorher den Bourbonen, zufallen.

Die erſte Nachricht von Napoleon's Landung mit einer fo kleinen Macht erregte am Hofe und in den officiellen Kreiſen der Hauptſtadt niht nur feinen Schre>en, ſondern ſogar eine Art von Zufriedenheit. Man glaubte jet die Gelegenheit gefunden zu haben, mit ihm und ſeiner Partei einmal für immer fertig werden, und ſich dadurch von allen ferneren Beſorg= niſſen vor ihm befreien zu können. Nur Ludwig XVIIL, wie immer gefaßten und klaren Sinnes, gab ſi keinen Täuſchungen hin. Gerade die geringe Truppenanzahl, mit der ſein und ſeines Hauſes großer Feind eine ſolche That gewagt, führte ihn darauf, vaß er in der Hauptſtadt und