Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

Graf Artois und Herzog von Orleans in Lyon. 273

ausgenommen, der im Süden einen muthigen, wenn auc zuleßt vergeb= lichen Widerſtand verſuchte, und dann ſchwankte die Bevölkerung zwiſchen den Erinnerungen an Napoleon und den Hoffnungen, welche die Neſtauration erregt hatte, bis die Annäherung des Erſteren die Entſcheidung gab, und Alles auf ſeine Seite zog.

Der Graf von Artois und der Herzog von Orleans hatten ſi nah Lyon begeben, und in der wohlhabenden Klaſſe der Bevölkerung eine warme Aufnahme gefunden. Aber die zahlreichen Arbeiter dieſer großen Fabrifſtadt blieben gleichgültig, und die Soldaten waren ſchon von dem Gedanken des Anſ{luſſes an Napoleon erfüllt. Als ſie ſeine Vorhut von fern gewahr wurden, ſtürzten ſie ihr aus der Stadt entgegen. Die vorſtädtiſche Bevölkerung theilte ihre Begeiſterung. Von der 20,000 Mann ſtarken Nationalgarde, die den Tag vorher unaufhörli< die Namen „Ludwig XVII. und Bourbon“ im Munde geführt, ward keine Hand hl zur Vertheidigung des Thrones erhoben. Auf dem linken Ufer der Rhone wurden die kaiſerlihen Adler und dreifarbigen Fahnen ſichtbar. Die beiden Prinzen mußten Lyon niht ohne Gefahr verlaſſen. Ein einiger Gensd'arme begleitete den Grafen von Artois ein Stü> Weges, bis er in Sicherheit gebracht war.

Ludwig XVII. that Alles, was er konnte, um ſi ſeines gewaltigen Feindes zu erwehren. Gegen den Rath ſeiner Miniſter, welche Napo=leon's Landung , ſelbſt als derſelbe ſchon in Grenoble eingezogen war, immer no< als ein Abentheuer ohne Gefahr anſehen wollten, hatte er die Kammern einberufen, um der Nation einen Beweis ſeines Vertrauens zu geben, und ſi, Napoleon gegenüber, im Bunde mit ven rechtmäßigen Vertretern des Landes zu zeigen. Unter anderen Umſtänden wäre eine folche Maßregel von großer Bedeutung geweſen. Aber die Kammern übten in jenem Augenbli> keinen Eir fluß aus. Zn der Pairskammer ſaß eine Menge dem Volke verdächtiger Ausgewanderten, und die Deputirtenkammer, die großentheils aus dem Napoleon’ ſchen geſetzgebenden Körper beſtand, war, einige populaire Namen ausgenommen, ohne Anſehen. Die von Anhänglichkeit an die legitime Dynaſtie und Haß gegen „den Tyrannen“, wie Napoleon jebßt oft genannt wurde, glühenden Adreſſen und Reden der Pairs und Deputirten verklangen, ohne einen Wiederhall in dem Heere und den Maſſen zu finden.

Napoleon war in Lyon, wie in Grenoble, des Abends eingezogen, ſei es, daß er über die Haltung, die er gegen das Volk annehmen ſollte, deſſen Ausgelaſſenheit und Zügelloſigkeit ihm innerlich wiverſtand, zweifelhaft war, ſei es, daß er einen meuchelmörderiſhen Anfall fürchtete, der

BVe>er, Weltgeſhihte. 8. Aufl. RPT. 18