Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

274 Neueſte Geſchichte. 2. Zeitraum.

bei der Erbitterung, die manche ſeiner Feinde gegen ihn hegten, niht un= mögli erſchien. In Lyon fühlte er ſi Frankreichs gewiß. Er hatte bis dahin viel von Freiheit und Volk geſprochen, und wohl Proklamatio= nen, aber keine Dekrete erlaſſen. Jezt nahm er wieder den Ton des , Kaiſers an. Er wandte einen Theil der Nacht dazu an, um neun De= krète zu erlaſſen, dur die er alle von Ludwig XVIIL. ſeit deſſen Nück= kehr ausgegangenen Regierungshandlungen für ungültig erklärte, die weißen Kokarden und Fahnen verbot, die Beſißzungen der königlichen Familie mit Konfiskation, die der mit ihr zurügekehrten Ausgewanderten mit Sequeſtration belegte, und die Berufung eines fo genannten Mai= feldes, aus Vertretern der Nation und der Armee beſtehend, eine Nachahmung der altfränkiſchen Volksverſammlungen, zur Berathung über die in der Verfaſſung vorzunehmenden Veränderungen beſtimmt, ankündigte.

In Paris fuhr die Regierung fort, Verhaltungs8befehle an die Generale und Präfekten in den Provinzen zu erlaſſen, aber es fehlte der De=bel zu jedem erfolgreichen Widerſtande gegen das verwegene Einſchreiten Napoleon's, die Willfährigkeit des Volkes und die Treue der Truppen, Im Rathe des Königs drängte ein Plan den anderen, aber es mangelte an Mitteln der Ausführung. Die Polizei verbreitete in der Hauptſtadt falſche Nachrichten über gegen Napoleon davon getragene Erfolge und den angeblichen Rückzug deſſelben. Aber bald kam die Wahrheit an das Licht, und eine tiefe Hülf- und Rathloſigkeit nahm überhand. Es lief die Nachricht vom Abfalle Ney's ein, der, nah den lebhafteſten Bezeu= gungen der Ergebenheit gegen den König und des Haſſes gegen den Kai= ſer, plöblih (14. März) in ſeinem Hauptquartier zu Lons le Saulnier Lebteren als den rehtmäßigen Souverain proklamirte, und ſein Armee= korps ihm zuführte. Ney, eine rein ſoldatiſhe Natur, war nur auf dem Schlachtfelde entſchieden und wahrhaft bedeutend, ſonſt aber von ſeinen Umgebungen abhängig, ohne ſelbſtſtändiges Urtheil und hellen Bli. Die Begeiſterung des Kriegsvolkes für den Verbannten von Elba über= redete ihn, daß deſſen Wiederherſtellung eine Nothwendigkeit für Frank= rei geworden. Außerdem mochte in ihm die Erinnerung früherer Zei= ten erwahen. Napoleon's Macht, wie eine Lawine anſhwellend, drang unaufhaltſam über Macon , Chalons ſur Saone, Auxerre gegen Fon-= tainebleau vor.

Mitten in dieſer allgemeinen Schwankung , dieſem unerhörten Ab-= fall, hielten die Kammern an Ludwig XVIIL. feſt. In einer feierlichen Sitzung, in welcher der König ſeine Trauer über das Schifſal Frankreichs, über die Drangfale eines auswärtigen Krieges, den Napoleon!s