Geschichte der neuesten Zeit 1789 bis 1871

284 Neueſte Geſchichte. 2. Zeitraum.

nur unter Franzoſen möglihe Umwandlung vorgegangen. Napoleon war nur elf Monate von Frankreich entfernt geweſen, und doh fand er Alles anders, als er es verlaſſen hatte. Die von Ludwig XVIIL. ver[iehene Verfaſſung, das Erwachen der parlamentariſchen Diskuſſion, die Polemik der Parteien , die frei gewordene Betrachtung über Vergangen= heit und Gegenwart, hatten eine Unabhängigkeit des Urtheiles und Willens hervorgebracht, von der unter dem Kaiſerreiche das äußerſte Gegentheil ſtattgefunden. Napoleon, der im Einzelnen ſehr oft, wo die Macht niht anwendbar war, ſeine Zuflucht zu den Künſten der Täuſchung und des Truges nahm, iſt jedo< im Ganzen ein von der Güte und Richtig= keit ſeines Syſtems überzeugter Selbſtherrſher geweſen. Seine geiſtige Ueberlegenheit, die Umſtände, unter denen ex ſi erhob, das Glüc, das ihn ſo lange begleitete, hatten ihn überredet, daß vas franzöſiſche Volk, indem es ihn auf den Thron feßte, ſich nur die Rolle des Gehorſams vorbehalten, und ihm allein das Recht, für daſſelbe zu denken und zu handeln , verlichen habe. Als er nun während der hundert Tage aus allen Theilen des Landes ven einſtimmigen Ruf nah Volksvertretung, Preßfreiheit, konſtitutionellen Garantier vernahm, war er innerlich er: ſtaunt, obwohl er äußerlich zuſtimmte, und hielt dieſe Richtung des öffent= lichen Geiſtes für eine Krankheit, die während ſeiner Abweſenheit ent= ſtanden , und deren Heilung ex, aber erſt wenn ſeine Verhältniſſe zum Auslande geregelt ſein würden, zu unternehmen ſi< vorbehielt. In ſei= nem naiven Despotismus brach er einmal bei einer gewiſſen Gelegenheit gegen ſeine Vertrauten in die Worte aus: „Wie mir die Bourbonen Frankreich zugerichtet haben! Es wird mir viele Mühe koſten, es wieder auf die re<te Bahn zu bringen !‘““ — h Dieſer Widerſpru< zwiſchen der Natur Napoleon's, die gewohnt geweſen war, ſi< immer nach ihren eigenen Eingebungen zu entſcheiden, und der Nothwendigkeit, jezt auf die Konſtitutionellen und Republikaner Rüſicht nehmen zu müſſen, die ihm überall beſhränkend in den Weg traten, lähmte nicht nur die militairiſchen Vertheidigungsmaßregeln , die er traf, ſondern drü>te ſelbſt ſeinen großen Charakter nieder, und erlaubte ihm nicht, ſeine ganze Kraft zu entwi>eln. In ſeinem eigenen Miniſterium ſtieß er zuweilen auf Widerſtand gegen ſeine Anordnungen, noch öfter auf Lauigkeit in der Ausführung. Einige ſeiner Miniſter, wie Cambacérès, einſt ſein Gefährte im Konſulat, Caulaincourt, den er ſeit der Verhaftung des Herzoges von Enghien zu großen Geſchäften verwandt, und mehre Andere, die er mit Reichthümern und Würden überhäuft, hatten ſi<h ihm aus Dankbarkeit wieder angeſchloſſen, aber ſie waren niht mehr, wie

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