Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

nur daft die Dinge der Welt durch diese Spieglung, mag sie sonst noch so treu sein, in ein überirdisches Licht getaucht, zur Idee gestaltet, bereichert wiedergegeben werden.

Wodurch wird dieses Wunder des Ausdrucks zustande gebracht? Gewiß, diese Augen sind ungewöhnlich weit offen, „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“, erst in zweiter Linie zum Wollen oder gar zum Herrschen. Ob wir nun das Jugendbildnis von Kraus betrachten (vgl. den Stich von Chhodorviecki II, 1) oder die Zeichnung von Bury (II, 3), das Gemälde von Kügelgen (II, 4) oder das von Stieler (II, 5), so sehr auch etwa die Mundeinstellung wechselt, so sehr bleibt, wenigstens was den Grad der Abdeckung anlangt, die Einstellung des Auges fast unverändert. Nur auf dem Gemälde von Tischbein (II, 2) ist das Auge spannungsgeladen. Hier spiegelt es dunkle Tiefen wider, in die es eindrang, das Auge eines Örest, der die Eumeniden erschaut und das Schicksal des Tantalidengeschlechts, selbst ein Tantalus, der von Begierde zum Genuß taumelt und im Genuß vor Begierde verschmachtet. Die Brauen sind heruntergezogen, um dem Anprall der Leidenschaft, der das Auge über das bloße Schauen hinaus dämonisch erweitert, standzuhalten. Wir sehen also, daß alle Momente, die sonst den Kontakt lockern, hier den Kontakt mit einer höheren Welt herstellen. Wir sagten schon, daß auch die Offenheit des Auges bei Goethe nicht Kontaktlosigkeit, sondern umfassenden Kontakt bedeute. Nicht ein Gegenstand allein wird ins Auge gefaßt, sondern vielen Gelegenheit geboten, ihre Bilder auf der Netzhaut zu entwickeln, freilich nicht allen zugleich auf deren gelbem Fleck (der macula lutea), der Stelle des deutlichsten Sehens. Goethes Augen waren eher tief als scharf, und die Augen vieler Forscher haben ihren Gegenstand schärfer und objektiv richtiger erschaut man denke an seine Verwechslung von Idee und Wirk-

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