Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

lichkeit in der Metamorphosenlehre und an sein Irregehen in der Farbenlehre —, aber wenige haben die Welt der Erscheinungen so in das Ganze des Lebens zu ordnen und einzugliedern gewußt wie er.

Solches Schauen kann sich aber nicht in der Flächendimension des offenen, umfassenden Auges erschöpfen; die Tiefe entsteht vielmehr schon durch die Kombinierung der Bilder beider Augen in einer neuen Dimension des Gesehenen. Um so mehr, wenn viele Bilder eines Gegenstands, aus verschiedenen Perspektiven gesehen, zu einer Idee zusammengeschaut werden: dann wird die Perspektive ins Unendliche getragen. Und so spricht sich diese ordnende Kraft seiner Augen, die sich zur höchsten Gestaltungskraft steigert, vorwiegend in der Parallelstellung der Augachsen aus, die seinen Porträts so angemessen ist wie sonst nur wenigen. Denn wenn man auch oft Bilder von Personen sieht, die ihre Augen ins Weite richten, so sind sie meistens zugleich ausdruckslos ins Leere gerichtet. Bei Goethe eilen gewohnheitsmäßig die Augen sogleich in die Ferne; sie projizieren die Gegenstände aus ihrer vereinzelten Wirklichkeit ins Unendliche, und im Schauen aus diesem Gesichtswinkel besteht ein Wesensmerkmal der Goetheschen Gestaltungskraft. Dadurch sind die offenen Augen Goethes, deren Kontakt mit dem Einzelding doppelt gelockert ist, nicht bloß Spiegel der Seele, sondern auch Spiegel der Welt; er faßt diese nicht nur treulich auf, er gibt sie auch gestaltet wieder.

Denn sicher ist, daß auch die Parallelstellung der Augachsen an sich eine Kontaktlockerung bedeutet. Das deutliche Bild eines Gegenstands entsteht, wenn beide Augachsen in ihm zusammenlaufen. Blickt man dagegen bloß in seine Richtung, aber über ihn hinaus, so entsteht ein undeutliches Bild. Nur wenn der Blick den Gegenstand gleichsam mitnimmt wie bei Goethe, wird auch das Schauen ins Unendliche zum positiven Ausdruckszug.

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