Gesicht und Charakter : Handbuch der praktischen Charakterdeutung : mit zahlreichen Kunstdrucktafeln, Zeichnungen und Bildtabellen

Da nun aber die Anzahl der Geschmacksempfindungen unendlich mannigfaltig ist, und sich der Feinschmecker gegen die Annahme einer bloßen Vierzahl sicherlich auflehnen würde, so müssen wir noch einen allgemeinen Geschmacksbezug, den genießerischen Zug des Mundes unterscheiden.

Der süße Zug

Hiebei wird mit Hilfe der Schneidezahnmuskeln der Mund zu einer kreisrunden Öffnung gespitzt, durch die die Zungenspitze zur Berührung des süßen Gegenstandes hervortreten kann; denn die Geschmackspapillen für das Süße befinden sich hauptsächlich an der Zungenspitze. Dies rührt daher, daß die erste süße Nahrung durch das Saugen an der Mutterbrust einverleibt wird. Die Lustempfindung des süßen Geschmacks zieht auch gern die der Lippen im Kontakt des Saugens mit sich, wobei noch der äußere Lippensaum ein wenig eingezogen wird. Eigentlich ist also der süße Zug erst aus der Saug- und Kußeinstellung an der Mutterbrust entstanden. Er stellt zugleich die volle Zuwendung oder Reizkontaktstellung unter den Geschmackseinstellungen dar.

Gern vergesellschaftet sich der süße Zug mit auch sonst starken Einwärtsspannungen der Lippenmitte, wo er Güte (Rosl IV, 5) oder Distanz zu den Leidenschaften anzeigt (Wagner Fig. 18); die „süße Leidenschaft“ ist schon eine Mischung (vgl. später die Schmachtstellung). Beim Kind ist es gerade die Abwesenheit der Leidenschaft, die ihm den süßen, auch im Verhältnis zu seinem allgemeinen Wachstum kleinen Mund verleiht, und im Mädchenalter wird durch den naiven Zug (Brink X, 3) die Kindlichkeit vorgetäuscht, die indessen oft nur dieselbe spielerische Distanz zur Leidenschaft darstellt wie bei Wagner und so zum Inventar der weiblichen Maske gehört.

183